Kleidung als Zeichen. Ein Experiment

Kleidung als Zeichen. Ein Experiment

Kleidung ist, außer als Gebrauchsgegenstand, oft auch ein Zeichen für unsere gesellschaftliche Positionsnahme. Menschen signalisieren ihre Position auch durch ihre Körpersprache und Kleidung. Schnurrbart, Bart, Frisur, Kopftuch, Rock, Hose, Schuhe, Badeanzug – das können Indikatoren für diese Position sein.

Stellen wir uns nun zwei Bilder vor, auf denen jeweils ein junges Paar erscheint: Im ersten Bild sehen wir eine Frau in einem schwarzen Tscharschaf und mit Sonnenbrille, und neben ihr sehen wir einen jungen Mann in Jeans, Turnschuhen und einem karierten Hemd. Im zweiten Bild sind wir am Meer: Eine Frau trägt einen den Hintern völlig freigebenden Tanga, und der junge Mann neben ihr trägt Badeshorts, die ihm bis zu den Knien reichen. Diese beiden sehr unterschiedlichen Einzelbilder zeigen Szenen, die uns heute oft begegnen und die daher fast als selbstverständlich gelten.

Wenn wir die Paare einzeln genauer ansehen, erkennen wir einen deutlichen Unterschied zwischen ihnen. Der Mann trägt jeweils unauffällige Kleidung, die Frau bedeckt ihren Körper entweder extrem oder macht ihn extrem frei. Während die Kleidung der Frau also Aufmerksamkeit erregt, ist dies beim Mann nicht der Fall. Wenn wir die beiden Bilder dann erneut miteinander vergleichen, können wir trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den Paaren eine Gemeinsamkeit erkennen: Während sich der Körper der Frau, nackt oder bedeckt, in ein Zeichen verwandelt, das zur Schau gestellt wird und uns eine Botschaft übermittelt, ist dies nicht der Fall bei dem Mann.

Die Erklärung hierfür könnte sein, dass Frauen damit auf ihren Körper als Sexualobjekt beschränkt werden (Sexismus), egal ob sie ihre Nacktheit zeigen oder sich verhüllen; bei Männern ist dies nicht der Fall. Dies erklärt sich unserer Interpretation nach dadurch, dass es sich um patriarchale Ungleichheit handelt, die, solange das Patriarchat besteht, sowohl bei modernen als auch bei konservativen Menschen Auswirkungen haben kann.

Uns interessierte nun, ob auch andere unsere Interpretation teilen würden und mit welchen Argumenten. Vor diesem Hintergrund beschlossen wir, ein Experiment durchzuführen. Wir haben eine Reihe unserer Bekannten und Freunde – aus einem intellektuellen Kreis in der Türkei und in Deutschland – gefragt, ob es zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Bildern etwas Gemeinsames gibt, und wenn ja, warum. Nur ein kleiner Teil der Antworten, die wir erhielten, entsprach unserer Antwort: Von 70 Personen (davon waren acht Männer) benannten vierzehn (davon drei Männer) als Gemeinsamkeit das Patriarchat bzw. den auf ihm beruhenden Sexismus.

Aber die überwiegende Mehrheit hat diesen gemeinsamen Punkt entweder nicht sehen können oder wollen. Beispiele dafür: 1. Beide Paare leben ihre Freiheit aus; jeder kann leben und sich kleiden, wie er möchte, also auch den Körper bedecken oder entblößen; die Menschen sollen einander so akzeptieren, wie sie sind, und sich nicht gegenseitig bevormunden; selbst wenn Frauen sich so extrem kleiden, sollte man das nicht verurteilen. 2. Die Kleidung beider Frauen zeugt von Mut zu Andersheit und Unkonventionalität. 3. Da die Jahreszeit offenbar Sommer ist, passt die Kleidung aller vier Personen gut dazu. 4. Die Paare folgen verschiedenen kulturellen Codes oder Moden. 5. Das Gemeinsame ist, dass beide Paare heterosexuell sind. 6. Es gibt keine Gemeinsamkeit, nur unterschiedliche Lebensstile und also auch Kleidungen in verschiedenen Ländern. 7. Egal ob Verhüllung oder Enthüllung: das Gemeinsame ist das auffallende Extrem. 8. Die Individuen, die jeweils ein Paar bilden, passen harmonisch zusammen.

Was uns an der Mehrheit der Antworten, von der wir eben einige wiedergegeben haben, auffällt: Sie geht auf die sehr markanten Gegensätze der Kleidung von Mann und Frau beider Paare und auf die extremen Gegensätze der Kleidung der beiden Frauen fast überhaupt nicht ein. Dabei bezieht sich unser Experiment gerade nur auf diese Frage nach etwas Gemeinsamem, das hinter
genau diesen Gegensätzen steckt.

Kehren wir noch einmal zu den beiden Bildern zurück: Wenn wir über den Kontrast zwischen den Paaren nachdenken, d. h. über die Nacktheit oder Verschleierung der Frau im Unterschied zu den unauffällig aussehenden Männern, dann ist es schwieriger, den Grund für den Unterschied zwischen der fast nackten Frau und dem Mann in Badeshorts zu erklären als den zwischen der verschleierten Frau und dem Mann in Jeans. Denn diese beiden folgen dem Gebot eines fundamentalistischen Islam, während jene scheinbar keinem Ge bot folgen. Aber wie erklärt es sich dass nur die Frau, aber nicht der Mann provozierend entblößt gekleidet ist? Die unter Nr. 1 schon angeführten ‚liberalen‘ Antworten wie „Jeder kann sich frei kleiden, wie er möchte, niemand kann sich in andere einmischen, niemand hat das Recht, über irgendjemanden zu urteilen, Frauen genießen ihre Freiheit“ beantworten diese Frage zweifellos nicht. Ist aber nicht die einzig schlüssige Antwort, dass dieser krasse Unterschied auf eine moderne, ‚liberale‘ Form des Patriarc hats zurückzuführen ist? Frauen stellen ihren Körper zur Schau, weil sie sich freiwillig, konformistisch einer patriarchal geprägten Mode unterwerfen. Aber wie schon gesagt, fand nur ein kleiner Teil der Teilnehmer diese Gemeinsamkeit heraus, nämlich dass Frauen sich wie in der traditionellen so auch in der modernen Welt auf ihren Körper reduziert zeigen.

„In beiden Bildern ist die Frau ein extrem ideologisches Objekt,“ brachte es ein männlicher Teilnehmer sehr lapidar auf den Punkt, „nämlich das Objekt von Religion bzw. Sexismus. Ich denke, es wäre nicht falsch zu sagen, dass auch Mode eine den Menschen aufgezwungene Ideologie enthält.“ „Die sexuellen Aspekte männerdominierter Gesellschaften entscheiden darüber, ob eine Frau offen oder verschlossen gekleidet ist “, sagte ein anderer männlicher Teilnehmer.

Eine Teilnehmerin sagte, diese Bilder zeigten, dass Frauen nur als Sexualobjekte wahrgenommen würden, dass ihre Persönlichkeit auf nur diese Dimension reduziert werde: „Dies sind Bilder zweier verzerrter Welten, die einen Mangel an Gleichberechtigung von Mann und Frau und also an Demokratie zeigen.“ „Ich möchte weder meine Tochter noch meinen Sohn auf einem solcher Bilder sehen. Ich versuche sie vielmehr so zu erziehen, dass sie beide Arten von Ungleichheit kritisch betrachten.“ Eine andere Teilnehmerin, die die Bilder im Detail sorgfältig auswertete, folgerte: „Die Frauen verinnerlichen ihre Unterdrückung in männerdominierter Gesellschaft.“ Denn ihr Ziel sei es, ob durch Verhüllung oder durch Enthüllung, von solch einer offen oder latent patriarchalen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Die Frauen entfremdeten sich also von ihrem Körper. Dabei handele es sich sogar um eine Art von psychischer Gewalt, an der auch die Frauen selbst mitschuldig sind, nämlich aufgrund dieser Verinnerlichung. „Solche Kleidung ist also ein Zeichen für ein Unrecht, an dem sie selber beteiligt sind, nämlich das Unrecht, das in der Erhaltung und Förderung des Patriarchats besteht.“

Diesen Antworten zufolge sind viele Frauen in einer patriarchalen Welt zu sehr männerfixiert: Entweder wollen sie ihren Körper der sexistisch-patriarchalen Mode entsprechend präsentieren oder ihn religiös-patriarchalen Ideologien entsprechend verhüllen – eine Fixierung auf das andere Geschlecht, von dem dieses seinerseits frei ist. Das eben kann man nur Patriarchat nennen.

Entscheidend bei diesem Experiment war, gerade in den Unterschieden das Gemeinsame erkennen und erklären zu können. Und dies war nur wenigen, etwa 20 Prozent, gelungen. Das müsste nun auch wieder erklärt werden. Vielleicht könnte dieses kleine Experiment eine Anregung

sein, es mit weiteren Gruppen durchzuführen, darüber zu diskutieren und die Ergebnisse uns per E-Mail (zehraipsiroglu@gmail.com/www.zehraipsiroglu.com) mitzuteilen.

Zehra İpşiroğlu – Norbert Mecklenburg

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