Nicht die Hoffnung verlieren

Dieser Artikel wurde von Susanne Rapp verfasst und erstmals am 11. September 2020 auf Rüsselsheimer Echo veröffentlicht. Gehe zur Quelle.

ZUSAMMENLEBEN – Mit einer Lesung beginnt die Interkulturelle Woche

Rüsselsheim – Unter dem Motto “Zusammen leben, zusammen wachsen” startete die Interkulturelle Woche in Rüsselsheim mit einer Lesung der Autorin Zehra Ipsiroglu, deren Buch “Denn immer ist Hoffnung” Gespräche mit der 2009 verstorbenen Medizinprofessorin, Feministin und zivilgesellschaftlichen Aktivistin Türkan Saylan enthält.

Rund 40 Teilnehmende waren zu der Lesung im Lassallesaal der Stadthalle gekommen. Adnan Dayankac vom Ausländerbeirat, Carmen Größ vom Frauenzentrum und Christel Göttert, in deren Verlag Anfang 2019 die deutsche Übersetzung des Buches erschien, richteten sich mit Grußworten an die Anwesenden. Zu dem bundesweiten Motto meinte Dayankac, zusammen zu leben und zu wachsen geschehe täglich im offenen Raum oder sollte geschehen. Die Interkulturelle Woche und ihre Veranstaltungen vom 9. September bis 4. Oktober geben die Möglichkeit für Begegnungen und Gespräche. Sie bieten die Chance, eine Tür zu öffnen für eine offene und tolerante Gesellschaft.

Carmen Größ sprach von der Arbeit Saylans, die sich unermüdlich für die Rechte und die Förderung von Mädchen und Frauen in der Türkei einsetzte, als wichtiges Vorbild und Orientierung. Verlegerin Christel Göttert berichtete, es sei ihr ein wichtiges Anliegen gewesen, das Buch auch in deutsche Sprache zu übersetzen, um dessen Inhalt Menschen zur Verfügung zu stellen, die kein Türkisch sprechen. Sie freute sich darüber, dass die Lesung in diesem Jahr den Auftakt der Interkulturellen Woche bildet. Denn das Leben und Wirken von Türkan Saylan sei für sie ein großes Geschenk.

Menschen überzeugen

Zwei Jahrzehnte lang begleitete die Autorin Zehra Ipsiroglu Türkan Saylan und arbeitete mit ihr. “Das war eine sehr anregende Zeit”, resümiert sie. Ihre nicht polemische und konstruktive Arbeit habe ihr gefallen und sei Vorbild für sie geworden. Durch ihr großes Engagement für Mädchen und Frauen besonders in ärmeren Gebieten der Türkei sei es Saylan oft gelungen, Menschen zu überzeugen, die völlig anders dachten als sie selbst.

Als Beispiel las sie aus ihrem Buch die Beschreibung eines 13-jährigen Mädchens, das verheiratet werden sollte und Schulverbot von ihrem Vater bekam. Daraufhin zeigte die Tochter den Vater an und besuchte wieder die Schule. Der Vater besprach sich mit dem Lehrer, um ihn auf seine Seite zu ziehen. Doch das Mädchen war eine so gute Schülerin, dass der Lehrer sie unterstützte und ihr zu einem Stipendium verhalf. Denn Bildung sei in patriarchalischen Verhältnissen die einzige Chance für ein Mädchen, aus dem Elend herauszukommen, als billige Feldarbeiterin und Gebärmaschine ausgenutzt zu werden.

Es gebe sieben Millionen Analphabeten in der Türkei. Sechs Millionen davon sind Frauen. Also setzte Saylan sich für Kurse ein, mit denen Mädchen und Frauen lesen und schreiben lernten. Ipsiroglu berichtete, dass auch eine Frau, die weit über 70 Jahre alt war, bei einem dieser Kurs teilnahm, um selbstständig die Briefe ihrer Söhne lesen zu können.

Eine große Stärke Saylans sei die Empathie gewesen, die sie angehenden Ärzten vermitteln wollte. Es gelang ihr, ihren Studenten beizubringen, wie wichtig es ist, den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen und ihm zuzuhören. Sie engagierte sich für Leprakranke, die wie Aussätzige behandelt wurden, da das Wissen um diese Krankheit fehlte.

Im Publikum saß eine Frau, die Türkan Saylan in Istanbul kennenlernte. Für sie sei es eine große Ehre gewesen, ihr begegnen zu dürfen, berichtete sie.

Trauer über verpasste Bildung

Das Publikum zeigte sich während der Lesung sehr interessiert, stellte Fragen und ergänzte mit eigenen Erfahrungen. Carmen Größ, die mit erwerbslosen Frauen mit Migrationshintergrund arbeitet, beschrieb die Trauer dieser Frauen darüber, welche Chancen sie verpasst haben, weil es ihnen an Bildung fehle. Gleichzeitig gebe es aber auch eine Freude darüber, dass es ihren Kindern, die Bildung erfahren, bessergehen wird.

Seit mehr als zehn Jahren ist die Gründerin der “Gesellschaft zur Förderung des modernen Lebens” verstorben. Was ist heute von ihrer Arbeit geblieben? Die Projekte gehen zu großen Teilen weiter, sagte Ipsiroglu. Wie lange, das wisse man jedoch nicht. Tatsache sei, dass Frauen in der Türkei viermal mehr Gewalt erlebten als in Deutschland. “Es ist sehr wichtig, dass wir gemeinsam etwas machen.”

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