Theater Als Lebensraum: Gespräch mit Roberto Ciulli

Beginnen wir mit dem Stichwort „Theater als Lebensraum“. Ich kenne Ihr Theater seit über zwei Jahrzehnten und weiß, dass hier gleiche oder ähnlich gesinnte Menschen zusammenfinden, manche ständig, manche nur zeitweilig. Theater gibt hier den Menschen die Möglichkeit, sich einen Freiraum zu schaffen, die eigene Kreativität zu entfalten, sich selbst zu finden. So könnte man von einem Modell der Selbstentfaltung und des Zusammenlebens sprechen.

Die Entscheidung Theater zu machen oder aber auch ins Theater zu gehen hat viel mit Leben zu tun. Ich denke das Theater gibt uns die Gefühlsintensität, die uns anhält, das Leben schätzen zu lernen. Diese Möglichkeit bietet das Leben des Alltags, das sich in der toten Wiederholung erschöpft, die alles Lebendige abtötet, nicht. Der Abtötungsmechanismus beginnt mit den Kontrollmechanismen, mit denen wir als Erwachsener durch unsere Sozialisation untrennbar verbunden sind. So wird unsere Lebensenergie, das nicht Kontrollierbare immer mehr verdrängt. Durch die Ordnung oder das System geht das Lebendige in uns verloren. Der Lebensraum Theater gibt uns die Chance die ursprüngliche Kraft, die Lebensquelle zu entdecken. Ich gehe ins Theater, um weinen zu können und bin glücklich, wenn ich in solchen intensiven Augenblicken das nicht zu kontrollierende in mir entdecke, ich meine das nicht Beherrschbare. Auch beim Lachen habe ich ein ähnliches Erlebnis. Theater ist also für mich ein Raum, in dem man Leben erfahren kann. Insofern trifft das Wort Lebensraum sehr gut zu.  Dieses von mir beschriebene Phänomen kann auch bei Kindern beobachtet werden. In der Kindheit lebt das nicht Kontrollierbare in uns, auch das Ursprüngliche, Naive, Spontane. So arbeite ich im Theater nie mit den Kriterien gut schlecht, falsch richtig. Das einzige Kriterium für mich ist das Leben, das wirklich Erlebte. Ein Theater, das nicht weiterlebt in den Zuschauern, ist ein totes Theater.

Das was Sie sagen, könnte man auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Dort, wo so intensiv gelebt wird, dass die strukturellen Verfestigungen, bzw. alles was das Leben abtötet, sich auflöst.

Das stimmt schon. Ich denke aber, dass dieses Moment besonders durch die Kunst, ausgelöst wird. Aber auch im realen Leben gibt es solche Momente. Auch der Schmerz kann diese Wirkung haben. Es kann z.B. keinen größeren Schmerz geben, als der den der Tod eines Menschen, den man sehr liebt, verursacht. Mit diesem Schmerz eröffnet sich plötzlich ein intensiveres Gefühl fürs Leben. Auch Angst kann eine solche Wirkung haben. Also alle Spannungen, die in uns sind. Natürlich ist die philosophische Dimension des Theaters sehr wichtig, das Durchdachte, Rationale. Aber die Grundessenz ist doch das Leben.

Bei einem Gespräch sagen Sie „Innerhalb der trockenen Theaterlandschaft gibt es ein paar Felder, die Wasser in sich tragen und die Chance bereithalten, dass da etwas gepflanzt werden kann und etwas geboren wird. Und so wie im Theater, gibt es eine Reihe von trockenen Landschaften innerhalb unserer Gesellschaft und es gibt auch dort einige grüne Flächen, wo etwas Neues seinen Anfang nehmen kann“.

Ich habe mich von diesem Zitat sehr angesprochen gefühlt und es auch so verstanden, dass Sie Brücken schlagen wollen zu Gleichgesinnten in anderen Bereichen. Theater als Lebensraum das auch andere Bereiche des Lebens erreicht, bzw. es gibt Verflechtungen, Verzweigungen, aus denen etwas Neues entstehen kann. Auch Brücken zu anderen Orten und Ländern, Theater als Lebensraum ist dementsprechend beweglich also nicht ortsgebunden.

Ja, das ist die gesellschaftliche Rolle des Theaters. Bei den alten Griechen hat das Theater in diesem Sinn eine politische Rolle gespielt. Die Wirkung des Theaters muss diese wichtige Rolle, die es in der Sozialisierung oder Resozialisierung des Menschen spielen kann, wieder entdecken. Theater ist ein Mittel zur Formung, Selbstentdeckung und Bewusstwerdung des Menschen, auch zur Schlichtung der Aggressionen, zum Gewaltabbau usw.

Diese Erkenntnis war es die vor zwei Jahren mein Interesse für das Projekt in der forensischen Klinik in Langenfeld „Wie hast Du geschlafen?“ geweckt hat. Ich habe ungefähr ein halbes Jahr lang, zweimal in der Woche in der geschlossenen Abteilung mit den Patienten gearbeitet. Die Aufführung des Projektes in der Forensik stieß auf große Resonanz.

Das Thema „Wie hast du geschlafen“ hatte in diesem Gefängnis natürlich eine besondere Anzündungskraft. Wie hast du geschlafen? Welche Träume Alpträume, Visionen hast du gehabt? So entstanden durch Improvisationen Bilder, an denen wir dann weitergearbeitet haben und allmählich zeigte sich, dass das Theater auch ein wirksames therapeutisches Mittel sein kann. Aus dieser Einsicht entstanden Diskrepanzen zwischen dem Vorhaben der Direktion dieses Projekt zu unterstützten um so etwas Neues zu bewirken und den Pflegern und Therapeuten, die sich dagegen sperrten. Plötzlich wurden die vorhandenen Strukturen in Frage gestellt. Das Projekt wurde zu Ende geführt. Aber eine weitere Zusammenarbeit, wurde blockiert.

Das, was Sie dort erlebt haben, muss wiederum sehr stark auf ihr Theater gewirkt haben, nicht wahr?

Die Feststellung wie viel Unrecht von unserer so Genannten „zivilisierten“ Gesellschaft ausgeht und von ihr zugelassen wird, hat mich schockiert. Das Theater sollte noch stärker in diese Bereiche eingreifen.

Das ist etwas, wo das Theater nicht mehr in seinem Elfenbeinturm bleibt, sondern versucht seine Fühler auszustrecken, Brücken baut zu anderen Lebensbereichen. Man könnte hier von einem erweiterten Lebensraum sprechen.

Das Konzept und die Struktur unseres Theaters ermöglichten eine solche Ausweitung. Die Notwendigkeit der Kontinuität scheint jedoch unumgänglich. Im normalen Theaterbetrieb gibt es einen ständigen Wechsel.  Jedes dritte bis fünftes Jahr kommt ein neuer Intendant, die Schauspieler wechseln. Und letztendlich geht es fast immer um Karriere. Das ist eben bei uns anders. Es ist ein Zusammenleben, wobei wir unter Zusammenleben Zusammenarbeiten verstehen. Die Interaktion in einer Theatergruppe funktioniert anders als die des Alltagslebens. Es gibt keine gültigen Regeln, die für alle gelten.

Die gestalterische Kraft des Theaters durch kollektive Kreativität

Ein wichtiger Stichpunkt für Ihr Theater ist kollektive Kreativität. Ich verstehe darunter Mehrstimmigkeit, eine Summe von Individuen von der man sich eine Mehrstimmigkeit verspricht.  Dass bei der Zusammenarbeit von so verschiedenen Menschen gerade durch die Verschiedenheit ein Kreativitätspotential entsteht. Das ist eben etwas anderes, als wenn ich am Schreibtisch sitze und mein Buch schreibe.  Ich selbst habe nach und nach gelernt dieses Stichwort sehr ernst zu nehmen, d.h. meine Seminare an der Universität in diesem Rahmen so umzubauen oder zu gestalten, dass in den jungen Menschen sich wirklich etwas anzündet, Lernprozesse entstehen, in denen jeder sich in der Gruppe selbst erfahren kann. 

Besonders Theater kann der Ort sein, an dem sich die kollektive Kreativität entfalten kann. Uns ist mit den Jahren nach und nach gelungen, eine Methodik zu entwickeln, in der jeder seine Individualität, seine Besonderheit in einen offenen Arbeitsprozess entfaltet. Es gibt aber verbindliche Regeln, die dieser lockeren Arbeitsweise Struktur verleihen. Wir sind alle in einem ständigen kontinuierlichen kritischen Dialog.

Das, was Sie sagen ist etwas anderes als die kollektive Kreativität in den siebziger Jahren, in der die Gruppen dazu neigten, sich hinter eine politische Auffassung zu stellen.

Damals war der ideologische Druck sehr stark. Das Mitbestimmungsmodell wurde im Theater sehr oft missverstanden. Auch künstlerische Fragen wurden durch Mehrheitsentscheidungen gelöst. Jegliche Art der Autorität wurde in Frage gestellt. Mit dem Resultat, das oft das Mittelmass jede Begabung im Keim erstickt hat.

Sie haben ein bestimmtes Theaterkonzept oder eine Vision und möchten diese verwirklichen. Sie wird von allen getragen alle haben die Möglichkeit ihre eigene Kreativität zu entfalten. Aber letztendlich kommt es dann doch auf das Ergebnis an. Und da gibt es eben ein Wechselspiel zwischen denen die in der leitenden Position sind, und den anderen. Das ist die Bedingung dafür, dass das Theater überhaupt existieren kann.

Wir haben eine starke künstlerische Leitung, mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer und mir – zwei Philosophen – und dem Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben, die seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Eine so dauerhafte Zusammenarbeit ist in anderen Theatern selten. Wir sehen das Theater als einen Teil der heutigen Lebenswirklichkeit. Alle Inszenierungen, die seit den achtziger Jahren entstanden sind, bilden einen gemeinsamen Diskurs. Keine Inszenierung steht alleine oder isoliert da.

Was mich in Ihrem Theater sehr beeindruckt, ist die Tatsache, dass es nicht rational erfassbar ist, dass man es erleben muss, und, dass es manchmal auch sehr stark unter die Haut geht. Ein Theater der Bilder, Alptraumbilder, das manchmal auch in sich sehr heterogen ist und fast zerfällt. Aber trotzdem steht ein Konzept dahinter. Und da ist es für mich jedes Mal eine Herausforderung, diese Bilder wie ein Puzzle Spiel zu entschlüsseln.

Ein Theaterkritiker stellte einmal folgende Behauptung in Bezug auf unsere Inszenierungen auf. Das Stück gliche einer Uhr. Man würde diese Uhr zerlegen, ihren Mechanismus durcheinanderbringen. Der Zuschauer wiederum müsse die Uhr nach und nach wieder zusammenbauen.

Der Zuschauer sollte bereit sein eine Reise ins Unbekannte zu beginnen. Diese Reise zwingt ihn ständig Entscheidungen zu treffen. Er muss sich ständig entscheiden was er gesehen hat oder was er sehen will. Nur so wird er am Ende der Reise eine Veränderung an sich selbst feststellen können. Das Theater zeigt ihm was sich hinter der so genannten Realität verbirgt, die Metapher des Vorhangs im Theater steht dafür. Einen Vorhang für eine Welt zu öffnen, die man schon kennt ist unsinnig.

Tatsächlich gibt es für uns einen wichtigen Autor, der diese Arbeit machen sollte. Ich vertrete die Theorie der vier Autoren. Der erste ist der Autor des Stücks, zu der Kategorie des zweiten Autors gehört der Regisseur, der Dramaturg und der Bühnenbildner, der dritte Autor ist der Schauspieler. Ich bin überzeugt, dass die schöpferische Tätigkeit nicht an dieser Stelle aufhört, sondern beim Zuschauer, den ich als vierten Autoren bezeichne, weitergeht.

Aber das meinen Sie eben nicht im Brechtschen Sinne, dass etwas gezeigt wird, was wir nicht sehen, um eben etwa Ungerechtigkeiten aufzudecken, bzw. Unterdrückungsstrukturen zu zeigen, die den Menschen einzwängen, sondern im subjektiven, freieren Sinne.

Doch auch, aber der Zuschauer soll entscheiden was er sehen will.

Also wird der Zuschauer in die kollektive Kreativität eingeschlossen. Um zum Stichwort Raum zurückzukommen, könnte man sagen, dass Sie durch kollektive Kreativität Räume schaffen wollen, in denen sich die Phantasie entfalten kann?

Ja genau, aber das Theater sollte sich unterscheiden von allen anderen „kollektiven“ Phänomenen in der Gesellschaft. Das Ziel des Fußballspiels ist es, das Publikum in ein gemeinsames emotionales Erlebnis zu versetzen. Hier werden viele Individuen zur Masse. Das Theater sollte im Gegenteil die Masse sprengen. Das Ziel meines Erlebnisses im Theater ist die Suche nach sich selbst oder die nach dem eigenen Namen.

Einerseits ist ihr Theater ein intellektuelles Theater. Andererseits kann es durchaus auch Menschen ansprechen, die gar keine Theater-Vorerfahrung haben. Das habe ich in der letzten Zeit vor allem bei meinen Studenten beobachtet.

Diese Erfahrung konnte auch ich machen. Die Bedingung ist jedoch unbefangene Offenheit, die innere Bereitschaft Neues aufzunehmen.  Es gab Zeiten, da die Hemmschwelle, die Berührungsangst bei den Zuschauern besonders stark zu spüren war. Sukzessive wurden diese abgebaut. Nach und nach ist es uns auch gelungen ein jugendliches Publikum anzusprechen. Auch durch eine intensive zusätzliche Arbeit in der Schule und der Universität im Rahmen des „Jungen Theater“ das Theater an der Ruhr.

Das heißt in das Theater als Lebensraum auch die neue Generation einzubeziehen. Da denke ich, dass Sie besonders der theaterpädagogischen Arbeit, die sich in Ihrem Theater in den letzten Jahren sehr entwickelt hat, viel zu verdanken haben. Vor allem Bernhard Deutsch, der die Verbindungen zu Schulen und Universitäten herstellt und dabei enorm viel leistet. Mittlerweile habe ich auch andere Theaterpädagogen kennen gelernt, aber niemanden kann ich mit ihm vergleichen.

Ein Pädagoge der das Theater leidenschaftlich liebt. Nur durch eine solche Leidenschaft kann so etwas erreicht werden.

Zu der neuen Generation gehören auch diejenigen, die Theater vielleicht später als Beruf ergreifen wollen.

Ja. Eines der interessantesten Projekte im Theater an der Ruhr ist das Hospitantenprojekt.  Junge Menschen, die gerade Abitur oder einen anderen Abschluss gemacht haben (und noch nicht wissen, was sie studieren wollen), können bei uns Einblick in die Theaterarbeit nehmen.  Jedes Jahr binden wir zehn bis fünfzehn Hospitanten in unseren Theaterbetrieb ein. Es gibt kontinuierliche Treffen mit der künstlerischen Leitung und den Schauspielern. Das Theater an der Ruhr ermöglicht seinen Hospitanten Einblick in alle Arbeitsbereiche des Theaters, auch während der Gastspielreisen.

Dieses Hospitantenprojekt ist sehr erfolgreich. Denn wenn die Hospitanten uns nach einem Jahr verlassen, gehen die meisten von ihnen an andere Theater. Auch wenn sie sich für einen anderen Bereich entscheiden, nehmen sie etwas mit was sie bei uns gelernt haben. Denn sie sind infiziert von einer besonderen Idee des Theaters. So tragen sie als werdende Regisseure, Schauspieler, Autoren oder als Techniker die Philosophie des Theaters an der Ruhr in die Welt. Eine Vorstellung von Theater das den demokratischen Gedanken, der sich durch den Dialog entwickelt, in sich trägt. Die Idee des Theaters als Ort der Kommunikation. Im Unterschied zu einem autoritär hierarchischen Theater entsteht hier die Kultur des Dialogs.

Die Raumverdränger oder der Kampf des roten Clowns mit dem weißen Clown

Was sind Ihrer Meinung nach, um mit Hadke zu sprechen „die Raumverdränger?“ Wenn wir von Ihren Inszenierungen ausgehen denke ich z.B. an die Anonymität  der Stadt, in der der Einzelne verloren geht, im „Dickicht der Städte“ an Machtkampf, und an Gewalt  in „Titus Andronicus“ und „Macbeth“, an Manipulation und Deformierung durch die  Sprache in “Kaspar“, an die Unterdrückung der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft  in den verschiedenen Lorca Inszenierungen wie „Doña Rosita oder Die Sprache der Blumen“ oder „Bernarda Albas Haus“, an Rassismus und  Fremdenfeindlichkeit  in „Bürger Schippel“, an  autoritäre den Menschen deformierende Erziehung um noch einmal “Kaspar“ zu erwähnen und „Pinocchio Faust“.  Könnte man sagen, dass das Grundthema im Theater an der Ruhr die Auseinandersetzung mit den Raumverdrängern ist?  Also Machtstrukturen und Konstellationen, die den Lebensraum zerstören? Das ist doch der rote Faden Ihrer Inszenierungen?

Ja, der rote Faden oder der rote Clown.  Der Clown ist das Symbol des Widerstands. Und Kunst entsteht eben durch Widerstand. Die alte Höhlenmalerei zeigt uns Bilder aus dem Leben der Steinzeitmenschen. Ein wiederkehrendes Motiv ist die Jagd. Wer hat diese Bilder gemalt? Wahrscheinlich Menschen, die nicht auf die Jagd gehen konnten, die krank waren, die die Gesellschaft abgestoßen hat. Kunst entsteht immer dort, wo eine Wunde klafft. Kunst entsteht aus Schmerz, aus der Not sich mitteilen zu wollen. Kunst ist auch der Versuch die eigenen Marginalisation zu brechen und die Kommunikation mit der Welt zu beginnen.

Das Theater an der Ruhr entstand aus dem beschriebenen Schmerz. Es konserviert und pflegt diesen Schmerz. Hinter der Entfaltung und Entwicklung dieses Theaters sehen wir eine ganze Leidensgeschichte. Alle unsere Inszenierungen, lassen sich durch die Metapher des roten und des weißen Clowns lesen. Der rote Clown ist der Bauch, die Verletzung, der ursprüngliche Schmerz die Wunde (die rote Nase), das Chaos, die Rebellion. Alle Ebenen die schwer zu kontrollieren sind. Der weiße Clown, die Ordnung die Autorität, die Macht, die Disziplin. Übrigens die Metapher des weißen und roten Clowns ist manchmal hilfreich für mein Verständnis der Welt. Wir selber wechseln selber im Leben unsere Rollen ständig zwischen dem roten und dem weißen Clown.

Sie haben sich selbst auch als roten Clown entdeckt und sind selbst sehr spät auf die Bühne gegangen?

Der Clown in mir entstand schon in der Kindheit als Widerstand gegen eine sehr autoritäre Erziehung. Als Regisseur wurde bin ich gezwungen, die Rolle des weißen Clowns zu spielen. Die Gründung des Theaters an der Ruhr war für mich auch ein Akt der Befreiung, so gab es bald kaum noch eine feste Grenze zwischen der Regieführung und der Schauspielerei. Der Schritt zu spielen war also gleichzeitig ein großer und ein kleiner Schritt. Seitdem bewege ich mich ständig zwischen der Rolle des roten und des weißen Clowns.

Ihr roter Clown in der Inszenierung „Der Kleine Prinz“, in der Sie die Titelfigur spielen, in „Die Dreigroschenoper“ oder „Titus Andronicus“ hat etwas Überwältigendes. Ihre Darstellung löst gemischte Gefühle aus. Grotesk, komisch, traurig, anrührend. Aber das Traurige überwiegt. Das gilt im Grunde für jede einzelne Inszenierung von Ihnen. Alle Stücke haben etwas Tieftrauriges. Groteske Bilder, Alptraumbilder, die, wenn man einmal in Berührung mit ihnen kommt, nicht mehr loslassen. Die groteske, alptraumhafte Bildersprache dieses Theaters erinnert mich zuweilen an die Arbeiten von Fellini und Bunuel, die mich in meiner Jugend sehr geprägt haben. Das Ganze hat aber manchmal etwas Bedrückendes, Beengendes. Ihr Theater ist ein Theater der Negation und der Resignation.

So würde ich unser Theater nicht bezeichnen. Tatsächlich leben wir in einer kranken Welt. Das Theater hat die Aufgabe kritisch gegenüber dieser Welt zu sein und auf vorhandene Missstände aufmerksam zu machen. Es wäre naiv zu glauben, dass man in kurzer Zeit die Welt verändern könnte. Aber der Glaube ist da, dass es den Menschen Schritt für Schritt doch gelingt das Paradies auf Erden zu verwirklichen. Dieser Glaube ist einer der Gründe sich der Kunst zu widmen Dieser positive Blick auf die Zukunft spielt eine wesentliche Rolle in allen unseren Inszenierungen. Unsere Stücke sind zwar oft düster, aber immer wieder blitzen lichte Augenblicke auf, die auf eine mögliche Versöhnung mit der Welt hinweisen. Wenn es um die Zukunft geht, muss man feststellen, dass die Menschen der Zukunft sich wesentlich von uns unterscheiden werden und man kann ein Gefühl der Ohnmacht nicht verdrängen, im Wissen, dass es sich hier um einen entscheidenden qualitativen Sprung in der Evolution handelt. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich unter diesem Aspekt dem Orang Utan näher fühle als dem Menschen der Zukunft. Vielleicht haben wir nichts Wertvolleres zu vererben, an den Mensch von morgen, als den traurigen Blick des Orang Utan, der eine lange Geschichte von Gewalt, Angst und Schmerz verrät.

Unterwegs Suche Raum und Sprache

In der Migration, einem der wichtigsten kulturellen Phänomene unseres Jahrhunderts, das an keiner Stelle Zugehörigkeit voraussetzt, stellt sich eine besondere Herausforderung. Man kann entweder dabei etwas gewinnen oder verlieren. „Es gibt Leute, die können nicht emigrieren, die bleiben Inseln ihrer Heimat“ haben Sie mal in einem Interview gesagt. Das ist so eine Festungsmentalität, die ich auch an den Migranten hier immer wieder erlebe. Was Sie in Ihren Inszenierungen zeigen, sind immer wieder Geschichten der Verlierer. Ich denke z.B. an solche Inszenierungen wie „Ein Bericht für eine Akademie“ oder „Bürger Schippel“. In „Bürger Schippel „sehen wir den Fremden, der, um sich einen Raum zu schaffen, um überhaupt zu überleben, das ihm Eigene verliert.

„Bürger Schippel“ ist die Geschichte einer totalen Assimilation. Das Schlussbild zeigt den Protagonisten mit einer Fackel in der Hand. Dies löst beim Betrachter die Assoziation brennender Häuser von Fremden aus, von Faschisten und Rassisten angezündet. Das ist ein negativer Blick auf das Thema der Assimilation. Ich wollte die Geschichte eines Outsiders zeigen, dem die Möglichkeit zur Entfaltung des eigenen Ich nicht gegeben ist, der die Chance der Emanzipation nicht wahrnimmt. Er unterliegt der Verführung mit aller Kraft sich in eine bürgerliche Gesellschaft integrieren zu lassen, eine Gesellschaft, die ihn und seinesgleichen nicht anerkennt. Obwohl ich im Laufe der Zeit Erfahrungen als Emigrant gesammelt habe, verstehe ich mich als privilegierter Emigrant, da ich Italien freiwillig verlassen habe um in Deutschland zu leben.

Ja, ich auch.

Ja, es war eine individuelle Entscheidung. Dazu kommt der kulturelle Aspekt. Sie und ich sind nach Deutschland gekommen mit einem starken intellektuellen Hintergrund wir hatten ein abgeschlossenes Studium und jeder von uns ist tätig in Bereichen wo ein Bewusstsein darüber herrscht, dass kulturelle Identitäten sich in einem ständigen Austauschprozess befinden. Zu meiner kulturellen Identität gehört nicht nur Dante, sondern auch Shakespeare, Kant und Tschechow und bei Ihnen verhält es sich bestimmt nicht anders. Wir sind uns beide bewusst, dass unsere kulturelle Identität sich nicht in einer rein italienischen, deutschen oder türkischen Identität erschöpft. Die Nation, die uns kulturell repräsentiert gibt es noch nicht, also arbeiten wir daran.

Aber es gibt etwas Individuelles, Besonderes an Ihnen, was als Kind in Ihnen war, und was Sie in dem Milieu in dem Sie aufgewachsen sind, geprägt hat. Was Sie also als Migrant aus Ihrem Heimatland Italien mitgebracht und nicht verloren haben?

Das Licht hier zeigt mir immer wieder, woher ich komme. Die Sonne. Vor allem diese südländische Mittagssonne, die mit geöffneten Fensterläden kaum zu ertragen ist. Das vermisse ich sehr. Der deutsche Himmel ist noch nicht mein Himmel geworden.

Ich verstehe das gut, weil es mir genauso geht. Das ewige Grau, das bis ins Innere eindringt.

Das Licht zeigt mir eben, wo ich wirklich zu Hause bin, wenn Sie das als spezifisch italienisch bezeichnen wollen, bitte.

Um zu den negativen Migrationsgeschichten zurückzukommen, zu den Geschichten der Verlierer, ist es nicht so, dass diese Gesellschaft hier dem Fremden das Fremdsein austreibt, d. h. ihn total assimiliert wie in „Bürger Schippel“ oder aber ihn als Fremden, Andersartigen in eine Ecke drängt, in der er selber bestimmt, wie ein Fremder, Andersartiger zu sein hat? Nach dem Motto „Du sollst anders sein, und zwar genauso wie ich deine Andersheit definiere. Wehe, wenn du anders bist“. Das erlebe ich sehr stark, wenn ich mich andersartig, z.B. orientalisch oder exotisch inszeniere, komme ich gut an oder stoße ich auf taube Ohren. Das ist das Gefängnis des Andersartigen. Haben auch Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

In den sechziger siebziger Jahren, als ich mich als Regisseur an Stücke der deutschen Klassik gewagt hatte, war die Kritik oft gnadenlos. Ich erinnere mich an Überschriften wie „Ciulli so nicht!“ oder „Lieber Spaghetti am Nordpol kochen“ und ähnliches. Im Zusammenhang mit meiner Inszenierung von Barlach „Der arme Vetter“ warnte mich ein angesehener deutscher Kritiker während eines Gesprächs ich sollte lieber bei Goldonis „Diener zweier Herren“ oder Pirandello bleiben. Heute nach 40 Jahren werden meine provozierenden Eskapaden in traditionelle deutsche Räume zunehmend Kritik geduldet.

Diese Gesellschaft die das Andersartige, auch wenn es auf intellektueller Ebene ist, nicht zulässt, oder eben so viel zulässt, wie es zu ihrem eigenen Weltbild passt. Das merke ich z.B. an den Büchern, die auf den Buchmarkt kommen. Es gibt viele Vorurteile darüber wie türkische Autoren zu schreiben haben.

Ja, es fehlt die Offenheit, der offene Blick für das Andere. Das stimmt, dass fürchte ich auch.

Sie bewegen sich in einem Zwischenraum, in dem dieses spezielle interkulturelle Problem, das ich beobachte und auch erlebe, nicht vorkommt. Aber egal, wie weit Sie Ihre Wurzeln verleugnen, die Vergangenheit, ihre Herkunft ist in Ihnen drin und ist ein Stück Ihrer heutigen Wirklichkeit.

Das stimmt. Aber ich reibe mich ja ständig daran, ich kritisiere es. Ich setze mich damit auseinander.

Immer wieder setzen Sie sich in Ihren Stücken auch mit religiösem Fundamentalismus auseinander, z.B. mit dem Katholizismus. Das hat auch mit Ihrer Kindheit zu tun?

Ich habe lange Zeit im Internat gelebt und bin dort sehr religiös erzogen worden. In „Kaspar“, in dem es um die Erziehung eines Kindes geht vor allem aber in „Pinocchio-Faust“ habe ich mich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Mit dem Beginn des neuen Lebensabschnitts in Deutschland hat auch ein zweiter Erziehungsprozess eingesetzt. Und dieser Prozess hat angefangen mit der Sprache. Im Laufe dieser Prozess habe ich mich immer mehr für die deutsche Sprache entschieden und eine kritische Distanz zur italienischen Sprache bekommen. Auch wenn deutsch nicht meine Sprache ist, liebe ich sie. Die Entdeckung der vielfältigen Möglichkeiten der deutschen Sprache fasziniert mich. Ich spreche viel lieber deutsch, als italienisch. Ich denke deutsch.

In Venedig hatte ich einmal einen sehr zornigen jungen Mann gesehen, der einen richtigen Wutausbruch hatte, tobte. Vielleicht sagte er die schlimmsten Schimpfwörter.  Aber ich war fasziniert von der Musikalität der Sprache. Es hörte sich wie eine Opernarie an. Auch seine pathetischen Gesten passten so gut dazu. Es war wie eine wunderbare Opernszene. Es war faszinierend.

Musikalisch schon. Aber Sie können mit der italienischen Sprache nie die Präzision erreichen, die die deutsche Sprache hat. Sie können nie den Sachverhalt oder die Empfindung präzise ausdrücken. Deutsch ist die Sprache der Philosophie. Im Italienischen brauchen Sie die ganze Körpersprache dazu, weil die Sprache an sich nicht genügt. Die deutsche Sprache ist eine entwickelte Sprache als die Italienische.

Ich verstehe schon, was Sie meinen. Es ist auch schwierig manches ins Türkische zu übersetzen. Trotzdem weiß ich nicht, ob man von einer entwickelteren Sprache reden kann. Es kommt ja auf den sprachlichen Bereich an, in der Poesie ist vielleicht Türkisch entwickelter als in der Philosophie.

Brückenschlagen zu anderen Ländern und Welten

Bei der Erweiterung des Theaters als Lebensraum spielen auch Kontakte zu anderen Ländern und Kulturen eine bedeutende Rolle. Könnten wir auch darüber sprechen? Als in den dreißiger Jahren Carl Ebert in Ankara arbeitete, um die neue Schauspielschule zu gründen, sagte er „Was von mir als romantische Episode empfunden worden war, wurde eine der tiefgreifendsten Erfahrungen in meiner künstlerischen Tätigkeit. Was ich in Wagen Träumen mir als Ideal vorgestellt hatte, einmal alle Traditionen in den Müllkasten zu werfen und ganz von vorne, aber wirklich ganz von vorne anzufangen, hier wurde es Ereignis“. Das bedeutet, dass die Zusammenarbeit mit jungen Schauspielern, die keinen Traditionsballast auf dem Rücken haben, für ihn zu einem großen Erlebnis wurde. Jetzt haben Sie angefangen, in Istanbul zu arbeiten. Ich beziehe mich auf Ihre Inszenierung „Dantons Tod“ im Stadttheater Istanbul. Ihre Erfahrung kann sich aber nicht mit der von Ebert decken, weil die türkischen Schauspieler, vor allem die staatlich engagierten die Stanislavski Schulung durchgemacht haben. Wie ist ihre Einstellung zum Theater, mit dieser Art zu spielen, überhaupt zu vereinbaren?

Die Leistung des türkischen Theaters seit Atatürk ist bemerkenswert. Kein Land in Europa hat eine solche Leistung vollbracht. Aber leider hat das Theater in der Türkei heute ein zu starkes autoritäres und hierarchisches Strukturverständnis.

Und das wiederum benachteiligt häufig die künstlerischen Resultate. Die Intendanten werden immer noch „ernannt“ und befinden sich während der Dauer ihrer Intendanz in einem rechtlichen Vakuum. Es ist schwierig in dieser Situation langfristig zu planen und radikale künstlerische Entscheidungen zu treffen, das System ist immer noch zu zentralisiert. Und die politische Obrigkeit hat noch zu viele Entscheidungsmöglichkeiten. Im Hinblick auch auf Europa muss sich das türkische Theater grundsätzlich reformieren. Auf der künstlerischen Arbeit lastet ein zu starker Produktionsdruck. Es fehlt offene Kommunikation es fehlt Forschungsarbeit es mangelt an Interdisziplinarität. In solch einer Struktur weiß man irgendwann nicht mehr warum man tut was man tut. Die einzige Motivation bleibt die Verwaltung der Selbsterhaltung. Viele begabte Künstler entscheiden sich ihren eigenen Weg zu gehen und bevorzugen außerhalb dieser Struktur zu arbeiten. Unter diesem Aspekt ist es nicht zufällig, dass eine immer reichere Theaterlandschaft freier Theater entsteht, die dem Theaterleben in der Türkei neue Impulse geben können. Das autoritäre System des türkischen Theaters, das viele Ähnlichkeiten zu militärischen Strukturen aufweist, grenzt den Schauspieler ein und unterdrückt sein kreatives Potential.

Umso erstaunter war ich als ich während der Arbeit an der Inszenierung „Dantons Tod“ in Istanbul feststellen konnte, dass bei den Schauspielern eine große Bereitschaft und Lust besteht sich auf die Improvisationsarbeit, auf der meine Arbeit als Regisseur basiert einzulassen.

Obschon die Türkei in letzter Zeit unglaubliche Anstrengungen unternommen hat sich die europäische Kultur anzueignen, scheint es mir, dass die Moderne noch nicht in der Türkei angekommen ist, man lässt sie dort nicht ankommen.

Es gibt einen Schauspieler Mahir Günsiray, der sehr positiv über die Zusammenarbeit mit Ihnen berichtet. Er hat heute ein eigenes Theater in Istanbul. Das zeigt doch, dass Sie dort Spuren hinterlassen haben?

Ja, aus dieser Generation gibt es schon einige, aus der Besetzung der ersten Koproduktion „Bernarda Albas Haus“ mit dem Staatstheater der Türkei im Jahr 1994, die später auch im „Dickicht der Städte“ mitgespielt haben. Bedingt durch ihre Leidenschaft für Theater und bestätigt durch unsere Zusammenarbeit, haben z.B. Levent Öktem und Nihat Ileri, ihre Berufung gefunden. Oder auch Müge Gürman und Nesrin Kazankaya, die heute das Pera Theater leitet, die sich durch diesen staatlichen Apparat immer durchkämpfen mussten. Es ist für mich heute erfreulich festzustellen, wie sie richtig angemerkt haben, dass ich in Istanbul Spuren hinterlassen habe. Ihr Ausgangspunkt ist das Seminar, das ich Anfang der neunziger Jahre in Istanbul gehalten habe. Ich hatte die Möglichkeit in vier Wochen intensiver Arbeit sehr viel über die Methodik des Theaters an der Ruhr zu vermitteln. Viele Schauspieler sind glücklicherweise davon „infiziert“ worden.

Mir fällt auf, dass Sie Beziehungen zu den Ländern anknüpfen, in denen es entweder Defizite an Demokratie oder gar keine Demokratie gibt. Zur Türkei kamen Sie in den achtziger Jahren nach dem Militärputsch, zu Iran nach der Islamischen Umstrukturierung. Ist das eher eine Art von Solidarität mit den unterdrückten Menschen in diesen Ländern?

Ständig setzen wir uns damit auseinander, welche Rolle das Theater in der Gesellschaft spielt und wie weit seine Wirkung reichen kann. Und vor allem geht es uns dabei um die Idee des demokratischen Zusammenlebens und Wirkens.

Das von mir erwähnte Hospitantenprojekt, wird international ausgeweitet. Stipendiaten aus zwölf arabischen Ländern werden eingeladen, bei uns zu hospitieren. Sie sollen in den Bereichen Kultur, Management, Schauspiel ausgebildet werden. Unser Ziel ist, diese Menschen zu verführen in den offenen Diskurs zu treten, den sie wiederum in den Ländern, in denen sie leben und arbeiten, in den verschiedenen Institutionen umsetzen können

Noch eine Frage zu Iran. Sie haben „Bernarda Albas Haus“ von Lorca mit iranischen Schauspielerinnen inszeniert. Wir haben ja auch das Gastspiel hier gesehen und mit den iranischen Schauspielerinnen nachher diskutiert. Mich würde jetzt Ihre Perspektive interessieren. Wie haben Sie mit den iranischen Schauspielerinnen gearbeitet, was waren ihre Erfahrungen? Und was bedeutet in Iran dieses Stück?

Zunächst muss man wissen, dass es in Iran nach der Islamischen Revolution keine Theaterstrukturen gibt, wie wir sie aus Europa oder der Türkei kennen. In Iran gibt es ein Theaterbüro (Dramatic Arts Center), der Direktor untersteht dem Kultusministerium, der verantwortlich ist für das Theaterleben im ganzen Land. Schauspieler, Regisseure, Autoren formieren sich jedes Jahr neu, um Projekte zu realisieren, die dem Kultusministerium vorgelegt werden müssen. Das Kultusministerium entscheidet dann, welche Projekte es für unterstützungswürdig befindet. Diese Projekte werden dann im Rahmen des jährlich stattfindenden Fadjr Festival vorgestellt, einige von ihnen werden sogar nach dem Fadjr Festival weitergespielt. Ironischerweise gibt es in Iran nur freie Theatergruppen. Projekte entstehen aus der Entscheidung freiwillig zusammenzuarbeiten. In so einer Theaterlandschaft ist die Gefahr einer Verbeamtung des Schauspielers unmöglich, allerdings gibt es dort auch keine ökonomische Sicherheit für den Schauspieler. Das Fernsehen oder andere Jobs sind der einzige Ausweg, der den Schauspielern das Überleben in Iran ermöglichen kann. Vielleicht waren dies die Gründe, warum sich die Schauspielerinnen, die ich dort traf, ohne große Umstellungen auf die Arbeitsweise des Theater an der Ruhr einlassen konnten. Die äußerlichen Schwierigkeiten, die mit der Entstehung eines solchen Projekts verbunden sind, erschienen im Gegensatz zu der starken kreativen Atmosphäre, die ich während der Proben zu der Inszenierung „Bernarda Albas Haus“, spürte, bald nichtig. Hinzu kam die gegenseitige Neugierde bei der ersten Begegnung zwischen einem Regisseur aus dem „Westen“ und iranischen Schauspielerinnen.

Ich verfolge die Entwicklung des das iranische Theater seit der Wahl Chatamis. Das Theater in Iran gleicht einem Wunder, denn obwohl die äußeren Bedingungen für das Theater seit der Islamischen Revolution sehr schwierig sind, denn sie werden durch Zensur und starke Kontrolle in ihrem kreativen Schaffen gehemmt, strahlt es eine erstaunliche Kraft aus, und übertrifft heute sogar oft das qualitative Niveau des iranischen Films, der auf der ganzen Welt einen ausgezeichneten Ruf hat. Parallel zu der traditionellen Art des Theaters, die noch lebt, entsteht ein sehr modernes Theater. Und das ist gesegnet mit einem unglaublich interessierten und begeisterungsfähigen Publikum. Und was für ein Publikum. Hoffen wir, dass nach dem Regimewechsel in Iran dieser ganze Reichtum und das kreative Potential nicht in kurzer Zeit zerstört werden.

Ich nehme an gerade, weil dort gerade die Isolierung und Abkapselung von der Welt so stark ist, sind sie äußerst dankbar für Impulse, die von außen kommen. Könnten wir auch über Rezeption und Rezeptionsbedingungen im interkulturellen Rahmen sprechen? Da gibt es vielleicht doch kulturelle Differenzen? Vielleicht ein Beispiel aus eigenem Erfahrungsraum: In Ihrer letzten Lorca Inszenierung „Doña Rosita oder Die Sprache der Blumen“ gibt es meiner Meinung nach drei ineinandergreifenden Themen: Parasitäre bürgerliche Gesellschaft, die Ausweglosigkeit der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft und das Faschistische, das Franco Regime.  Mir ging das Thema Patriarchat unter die Haut. Plötzlich erinnerte ich mich an eine Studienfreundin, die nicht geheiratet hatte und nach und nach zu einem Sonderling wurde. Der Tod ihres Vaters war für sie so ein schwerer Schlag, dass sie sich fast mit ihm in den Sarg legen wollte. Also das Ganze kam mir sehr realistisch vor. Mein Mann als Deutscher dagegen hatte in dem Stück nur die parasitäre Gesellschaft gesehen, Doña Rosita Thema, Jungfräulichkeit und Warten nur als ein Mittel zum Zweck interpretiert, d.h. gar nicht ernst genommen. Also so unterschiedlich waren unsere Rezeptionen. Und wenn wir jetzt zu Iran zurückkommen, die patriarchalische Gesellschaft bei Lorca hat doch direkt mit Iran zu tun.  Die Iraner müssten sich doch besonders getroffen fühlen?

Die im Stück gezeigte Situation gleicht der politischen Lage in Iran sehr. Aber das heißt nicht, dass es dort uneingeschränkt angenommen wird. Sobald den Leuten ihre eigene Lebenswirklichkeit vorgehalten wird, vermeiden sie den Blick in den Spiegel, da er ihnen nichts Angenehmes zeigt. Als wir 1987 in Ankara „Tote ohne Begräbnis“ spielten, war das Thema Folter in der Gesellschaft tabu. Die emotionale Reaktion auf das Stück war sehr stark, doch auf intellektueller Ebene sperrten sich viele gegen das Stück. Diese absurde immer wiederkehrende Frage, denn alle wussten, dass in der Türkei gefoltert wurde (nachzulesen im Amnesty International Report). Viele wehrten sich gegen diese offenkundige Wahrheit dagegen, auch Intellektuelle. Jeder wusste doch, dass gefoltert wurde und vielleicht gerade deshalb gab es eine Sperre. In Chile machten wir mit der gleichen Inszenierung 1991 eine ähnliche Erfahrung.

In Iran war es so ähnlich auch mit dem Lorca Stück.  In der iranischen Gesellschaft genießen die Frauen eine sehr hohe Anerkennung viel mehr als in Europa besetzen Frauen verantwortliche Positionen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, Universitäten, Krankenhäuser. Natürlich ist der Druck, der auf die Frauen ausgeübt wird und der ihnen diktiert wie sie sich in der Öffentlichkeit zu geben haben, unübersehbar. Insofern ist Bernarda Albas Haus auch ein Stück über die Unterdrückung der Frau in Iran, aber es ist nicht nur ein Stück über Frauen es geht generell um Unterdrückung. Die Metapher der Mauer weist auf eine grundsätzliche Situation in Iran hin. Insofern traf das Stück einen politischen Nerv in Iran. Trotzdem haben viele ablehnend reagiert und wieder die absurde Frage gestellt: Warum wird gerade Lorca in Iran gespielt? Warum wird gerade dieses Stück hier aufgeführt? Die Antwort auf diese Frage: Vielleicht liegt die Antwort auf diese Frage im nationalen Stolz, der sich an dieser Stelle im Verdrängungsmechanismus äußert. Ähnliche Phänomene sind passiert bei der Frage nach dem Schleier. Wenn iranische Frauen auf dieses Thema angesprochen werden, reagieren sie mit Unverständnis der Frage, warum sie den Schleier tragen gegenüber. Sie entwickeln eine positive Haltung gegenüber der Tradition des Schleiers, sie verteidigen den Schleier und contra karieren, dass die Frauen im Westen noch stärker unterdrückt werden sich dessen nur nicht bewusst sind, da sie sich selbst zu Objekten machen, indem sie sich ständig nackt präsentieren.

Das hat schon einen Wahrheitskern. In der Männerorientierten Welt, egal ob in den westlichen Ländern oder in Iran, wird eben der Körper der Frau zum Objekt gemacht. Ich hatte eine türkische Studentin, die immer mit nacktem Bauch herumlief. Und plötzlich gab es eine Wende. Sie trug einen Schleier. Sie wunderte sich, als ich sie dann fragte, ob sie sich jetzt verlobt habe. Das sah man ihr doch sofort an. Aber zurück zu Iran, gab es denn nur eine negative Reaktion?

Nein, das Publikum war gespalten. Das Stück wurde 35-mal in Teheran gespielt, danach auch im Rahmen des Fadjr Festival gezeigt. Es gab schon eine große positive Resonanz.

Wie die Rezeption läuft, können Sie an den Publikumsreaktionen sehen oder aber durch Gespräche mit den einzelnen Leuten, oder eben durch die Presse. Gibt es auch Untersuchungen zur Rezeption Ihrer Stücke? Gibt es so etwas wie Rezeptionsforschung?

Seit Beginn des Theater an der Ruhr setzten wir uns sehr gründlich mit dem Thema Rezeption auseinander. Wir können auf unseren Gastspielreisen Erfahrungen mit dem verschiedensten Publikum machen, Das ist auf der einen Seite interessant, doch es erschwert auch die Rezeption. Wir haben Publikum aus Mülheim, Nordrhein-Westfalen, Klein- und Großstädte in Deutschland und der ganzen Welt. Seit der Gründung des Theater an der Ruhr wird fast jede Vorstellung von Helmut Schäfer oder mir begleitet. Wir erleben die Reaktion des Publikums also direkt im Zuschauerraum während der Aufführung. Diskussionen, auch mit Schulklassen, über unsere Inszenierungen vor und nach den Vorstellungen sind weiterer Bestandteil unserer Arbeit. Natürlich können wir nicht in das Innere der Köpfe und der Herzen der Zuschauer hineinschauen, dort wo sich während einer Vorstellung das Entscheidende abspielt. Und darauf kommt es letztendlich an.

Was die Rezeption Ihres Theaters in der Türkei betrifft, gibt es entweder Begeisterung oder Abwehr. Neutralität gibt es nicht.  Bei Theaterbesprechungen fällt mir auf, dass die meisten recht oberflächlich sind.  Oder es gibt so eine Abwehrhaltung, was vielleicht auch mit steigendem Nationalismus zu tun hat. Als die Beziehung Ihres Theaters zur Türkei Mitte der neunziger Jahre eingeschlafen war, war ich ganz kurz Leiterin des Internationalen Istanbuler Theaterfestivals. Ich wollte Ihr Theater wieder zur Sprache bringen, aber es war aussichtslos. Es gibt vor allem bei den Kulturfunktionären eine Abwehrhaltung, die mir unverständlich ist. Dabei kennen sie Ihr Theater nicht mal. Wie sehen Sie das?

Diese Frage sollten Sie denjenigen stellen, die diese Probleme mit mir haben. Eine mögliche Erklärung ist vielleicht schon in unserem Gespräch zu finden, dort wo sich meine grundsätzliche Einstellung zum Theater manifestiert.

Das Theater an der Ruhr hatte in den achtziger Jahren den Durchbruch. Später hat man es in Deutschland immer weniger wahrgenommen. Womit hängt es Ihrer Meinung nach zusammen, dass der Impuls, den Sie einmal gegeben haben, nach und nach abgeklungen ist? Hat diese Entwicklung mit der rasanten Entwicklung der Unterhaltungsindustrie also wieder mit Raumverdrängern zu tun?

Die Gründung unseres Theaters war eine Pioniertat. Wir waren ein Novum. Ein mobiles, reisendes Theater, dass Brücken zu anderen Ländern baut. Ein Theater, das sich vom etablierten Theater abhob. Die Gründungszeit des Theater an der Ruhr war sehr aufregend. Außerdem waren wir das letzte professionelle Theater, das in Deutschland gegründet worden ist. Danach hat man angefangen Theater zu schließen. Das Interesse des Fernsehens Theateraufführungen aufzuzeichnen und auszustrahlen war damals größer als heute. Kein Theater kann eine nicht nachlassende, kontinuierliche Aufmerksamkeit für sich verbuchen. Jeder Intendantenwechsel an Stadttheatern ist von einem großen Medienrummel begleitet, der dann mit der Zeit abebbt.  Finden Sie ein Theater in Deutschland, das 25 Jahre mit derselben künstlerischen Leitung mit konstantem Präsenz in den Medien vertreten ist.

Das hat doch damit zu tun, dass Sie jetzt versuchen die neue Generation, die Jugendlichen mehr zu gewinnen.

Jedes fünfte bis sechstes Jahr kommt eine neue Generation, für diese Veränderung muss man im Voraus arbeiten und das tun wir. Das Theater muss mehr teilhaben an der Bildung der Jugendlichen und verankert sein im Lehrplan der Schulen. Es ist schade, dass Theatererziehung in der Schule nicht dasselbe Gewicht hat wie der Sportunterricht.

Das ist denke ich auch der besondere Berührungspunkt, der uns zurzeit verbindet. Da wir ja Lehrer ausbilden, Studierende mit Migrantenherkunft, die dann irgendeinmal so weit sind, selber Einfluss auf die neue Generation haben. Und, wenn gerade diese Menschen, die sich bisher als eine Minderheit am Rande der Gesellschaft bewegt haben,  jetzt  in den Lebensraum des Theaters einbezogen werden, sich hier finden, entdecken  und entfalten können, könnte das wiederum eine starke Wirkung auf die kommenden Generationen haben. 

2006 (unveröffentlicht)

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