Aus der Perspektive einer Randeuropäerin: Deutsch-türkische Beziehungen

Ich lebe zur Zeit   als eine türkische Autorin mit einer Deutschlanderfahrung, die über mehrere jahrzehnte zurückblickt in Köln und Istanbul.  In meinem heutigen Vortrag versuche ich der Frage nachzugehen, wie mein Leben es ermöglicht hat einen kritischen Blick auf deutsch-türkischen Beziehungen zu werfen.

Vor etwa fünfzehn Jahren hatte mich die Fotografin Ingrid von Kruse gefragt, ob ich an ihrem Ausstellungsprojekt Europa teilnehmen wolle. Wie sehen Autoren, Künstler, Politiker, Intellektuelle Europa? Aus vielen Ländern hatte sie Menschen ausgewählt, die sie fotografieren wollte.  Zu diesen Porträt-Fotos sollte jeder seine persönliche Beziehung zu Europa kurz darlegen. Ich freute mich natürlich, in einem Buch zu erscheinen, in dem Frederico Fellini, Vaclav Havel, Eugene Ionesco oder Dietrich-Fischer Dieskau vertreten waren, denn zu diesen Künstlern hatte ich einen besonderen Bezug. Jeder von ihnen hatte mich ein Stück in meinem Leben begleitet, ja geprägt. Was mich aber am meisten freute, war, dass in diesem Ausstellungs- und Buchprojekt auch eine türkische Stimme dabei sein sollte. Denn ich fühle mich als Europäerin, wenn auch als Randeuropäerin, und ich bin es – wie viele meiner Landsleute – gewohnt, immer wieder an den Rand gedrängt zu werden. Wer an einem Ort lebt, den andere Leute, die glauben, selbst im Zentrum zu sein, als „Rand“ betrachten, wird oft in Rollen gedrängt, die weder mit ihm noch mit seiner Lebensgeschichte etwas zu tun haben. Wie  oft habe ich in meinem Leben  selbst die meistens verwunderte, zugleich etwas verlegene Frage gehört, ob ich wirklich eine Türkin sei, was meine Identität sei – als gäbe es eine Identitätsschublade, in die schnell alle Türken hineingestopft werden könnten -, ob ich auch jede Woche in die Moschee gehe, nach den Regeln des Islam lebe – als würden auch in Deutschland alle jede Woche in die Kirche laufen. Die Diskrepanz zwischen dem, was man ist, und wie man wahrgenommen wird, ist eben gerade bei Menschen sehr groß, die sich selber dazugehörig fühlen, aber von anderen als fremd eingestuft werden.

Das Besondere, zugleich fast das Umgekehrte, was ich als Randeuropäerin erfahre, ist, dass ich mich universellen Werten wie Menschenrechte, Frauenrechte – die aus Europa stammen -, noch stärker verbunden fühle als viele Mitteleuropäer, die diesen Rechten gegenüber zu einer „postmodernen Beliebigkeit“ tendieren. Vor ein paar Jahren  wurde während der Ruhrtriennale im Theaterstück „Fort Europa“ des holländischen Regisseurs Johan Simons ein degeneriertes und müdes Europa gezeigt, das nur aus Chauvinismus, Rassismus und Konsum besteht. Nach und nach verlassen alle Menschen mit Kind und Kegel Europa, um in fremde Länder zu ziehen, in denen sie von vorne beginnen können. Das war genau das Gegenteil von meinem Europabild, das trotz großer Enttäuschungen immer noch mit meinem Glauben an das Projekt einer humanen Modernisierung einhergeht. Denn als Randeuropäerin kann man sich den Luxus des Überdrusses, der Langeweile, der Müdigkeit und der Resignation nicht leisten. Die Probleme im eigenen Land sind so belastend und schwerwiegend, dass der Impuls, sich damit auseinanderzusetzen, Widerstand zu leisten und vielleicht auch zu positiven Entwicklungen und Änderungen beizutragen, eine besondere Herausforderung bleibt.

Den Blick eines Randeuropaers  haben eigentlich  die meisten Intellektuellen in der Türkei, die westlich orientiert sind und dabei in einem erst halbwegs modernisierten Land leben. So entsteht öfters das Gefühl, im eigenen Land fremd zu sein.  So bildet  das Fremde im Eigenen  für mich seit je den eigentlichen Impuls, ja die Triebkraft fürs Schreiben. Hinzu kommt mein besonderer Deutschlandbezug seit meiner frühen Kindheit, mein Beruf als Literaturvermittlerin in beiden Ländern, sowie mein heutiges Pendelleben zwischen Köln, Essen und Istanbul. All das schafft eine Art von Bewegung und Mobilität, die die distanzierte Perspektive einer Randeuropäerin so weit stärkt, dass vieles anders wahrgenommen wird als von Deutschen.

Wie ich deutsch lernte

Die deutsche Sprache lernte ich mit neun Jahren in meiner Heimatstadt Istanbul von Brigitte, einem aupair Mädchen aus bürgerlichem Hause, das weder eine Ahnung von Kindern, noch von Sprachunterricht hatte. Was macht denn ein junges Mädchen  mit einem aufsässigen, rebellischem Kind, das zwar neugierig, aber keineswegs lerngierig war?  Da half kein  Zureden, kein Geschimpfe,  kein Handgreifen, das Kind weigerte sich mit aller Kraft die langen Konjuktionen auswendig zu lernen. Dafür mochte es die Spaziergänge durch Istanbul, mit einer Horde von Männern hinter ihnen. Denn Brigitte war schön wie eine Märchenprinzessin. Und stark wie eine Amazone, denn wehe wenn einer sich  ihr auch annäherte, schon hatte er ihren spitzen Stöckelschuh auf dem Kopf. So dramatisch aufregend diese Spaziergänge auch waren, so unerträglich war der Deutschunterricht. Das Kind  blieb  auf Kriegsfuss mit allem was in dem Grammatikbuch stand, angefangen von bescheuerten Artikeln bis zu komplizierten Konjuktionen. “Mag nicht, lass mich in Ruh”waren die einzigen Worte, die es sich merken konnte, was die schöne Amazone, als eine grosse Frechheit mit Backpfeifen auszahlte. Dann plötzlich kam die  unerwartete Wende: Ein Lesebuch mit altmodischen Bildern drin. Das Kind wurde neugierig.Die erste Geschichte, die es  las war ein Ausschnitt von  Storms “Immensee”.  Es verstand zwar nicht viel,  witterte aber, dass es den beiden kleinen Blondschöpfen , die im Garten herumtrollten viel besser ging   als ihm.. Aber sehr bald sollte es  merken,  dass Gefühle   doch relativ waren, denn schlimmer als Gefangensein war der Tod. Nachts hörte das Kind den gallopierenden Reiter “mein Vater, mein Vater der Erlkönig hat es mir angetan”, schreiend wachte es auf  und umarmte fest  ihre Gefängniswärterin, die es  vom Erlkönig retten sollte. Noch heute graust es mir, wenn ich Goethes Erlkönig  lese. Das Eis zwischen der Lehrerin und der Schülerin  schmolz aber erst, als das Kind   plötzlich bereitwillig den ersten Kapitel von Eichendorfs “Aus dem Leben eines Taugenichts” auswendiglernte.  Durch jedes Wort und jeden Satz, an denen es sich berauschte,  entstand eine wunderbare Zauberwelt mit  zwitschernden Vögeln, leuchtenden  bunten Blumen, sich drehender Mühle, eine Wunderwelt, die so weit entfernt war von seinem Gefängis.  Die Kinderbücher, die es dann zur Belohnung von den Eltern als  Geschenk  bekam, die urkomischen Kasperlegeschichten, die sehr einfach zu lesen waren, etwas später die  Geschichten von dem Försterkind Pucki und Rosemarie auf der Heide , die damals als Serien herauskamen und auch  literarisch anspruchsvollere  Kinder Bücher wie  “Das doppelte Lottchen”, “Emil und die Dedektive” von Erich Kästner  konnte es  jetzt  mühelos  alleine lesen.  Mit jedem Buch eröffnete sich ihm eine neue Welt. Die Geschichten von der Förstertochter Pucki oder Heidenkind Rosemarie, die in einem Bauernhof lebt  war wie eine Reise in ein exotisches Land mit  wunderschöner schöner Heidenlandschaft mit frischer Kuhmilch, gackernden Hühnern und  Blütenduft . Alles war so fremd, zugleich aber so vertraut.

War die Rede von der deutschen Schule, in die das Kind bald kommen sollte,  wurde es richtig aufgeregt. Der Schule grundsätzlich feindlich gesinnt, dachte es, dass es in der deutschen Schule  anders   sein würde, als in der türkischen Kinderquälerei und Folteranstalt. Das positive Blick Deutschlandbild hatte es wohl  von seinem Vater geerbt, der in den dreissiger Jahren in Berlin in einer elitären Atmosphäre  Philosophie studiert und in Bonn als ein Meisterschüler die  Akademie der bildenden Künste abgeschlossen hatte. Das Kind  kannte auch die deutschen Freunde von Eltern, zivilisierte, feine Herren und Damen, Kollegen des Vaters aus der Universität, berühmte  Geisteswissenschaftler, Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler, Phlosophen, die zu den Meinungbildern der Adenauerzeit gehörten..   Auch wenn die Herren besessen von ihren eigenen Denk- und Forschungsarbeiten es nicht mal wahrnahmen,  die Damen gönnten ihm doch  kleine Geschenke wie Papierpuppen, Bücher oder Schokolade.  Ihre Zuwendung  gefiel ihm ganz gut, weniger ihr  “natürlich robustes Aussehen  ohne jegliche Schminke”,  sie sahen so anders aus als die eigene  feine, hübsche Mutter, aber  damals  legten die Deutschen viel Wert auf Frische und Natürlichkeit,  weniger auf Design, Körperkult und Inszenierung.   Das war noch vor der Amerikanisierungswelle. Unter den Herren waren etliche Grössen aus der Nazizeit,  wie ich später mit wachsendem Unbehagen erfuhr, z.B. der  Germanist Fricke,  der eifrig die Bücher verbrannt hatte, aber darüber wurde damals nicht gesprochen, es gab schliesslich interessantere Gesprächsstoffe. Fricke war unheimlich anzusehen, wenn er mit schäumendem Mund  einen Redeanfall bekam. Er steigerte sich immer mehr und mehr in einen Wortschwall und war  nicht mehr zu bremsen, es war wie ein epiteptischer Anfall, und mein armer Vater, der auch gerne redete musste sich als Gastgeber höflich zurückhalten.. Mittlerweile sang Frau Fricke als Amateursängerin mit einer quitschenden Stimme  Schubert Lieder in Begleitung  meiner Mutter, die als Pianistin ausgebildet war.  Also die Deutschen waren, wenn auch recht seltsam,  (aber das waren schliesslich alle Erwachsene), doch  höflich und nett, auch Kindern gegenüber, warum sollte die deutsche Schule anders sein? Aber  sehr bald sollte es erfahren, dass es mich da gewaltig geirrt hatte.

Disziplin, Ausdauer, Fleiss: Die deutsche Schule in Istanbul

Disziplin, Ausdauer, Fleiss und Willenskraft  waren die Prinzipien der deutschen Schule, Prinzipien von denen ich nicht gerade viel hielt . Und da ich nicht ein Reformertyp war wie mein jüngerer Bruder, der Jahre später  als  vierzehnjähriger die deutsche Schule von Grund aus  reformieren wollte und dafür aus der Schule flog, zog ich mich in meine Phantasiewelt zurück. Das bedeutete, ich kümmerte mich um nichts, machte auch nichts, dafür alberte und lachte ich viel, einziger Zuflucht aus einer militaerischen Atmosphaere. Gerade das machte aber die Lehrer, von denen etliche vielleicht  auch Exnazis waren, wahnsinnig. Schreiende, brüllende, handgreiflich werdende Lehrer gehörten zur Tagesordnung. Nur das feine Fräulein Bron eine dürre Hagenstange mit langen Beinen bedeckt  mit einem bräunlich blonden Haarschaum  war still und freundlich wurde aber fuchsteufelwild,wenn man ihr statt “Fräulein”, “Frau” sagte. Auch konnte sie es nicht aushalten, wenn man während des Unterrichts das kleinste Geräusch machte, selbst ein Papierrascheln machte sie wahnsinnig. Wer erwischt wurde hatte sich an die Tafel zu stellen. Die Jungen raschelten extra, um ihre lang ausgestreckten Beine unbemerkt  von der Nähe zu begutachten und dabei die frechsten Fratzen zu schneiden. Ich war ein outsider in der Klasse, nicht nur,weil ich die denkbar schlechtesten Noten bekam, sondern auch, weil ich die jüngste war und mit den Maedchen in der Klasse, die nach Liebschaften aus waren,  gar nicht mithalten konnte.. Die Lehrer hatten mich  als hoffnungslosen Fall längst abgeschrieben. Nur unser Deutschlehrer war über mich sehr irritiert, denn überzeugt davon, dass ich kein Wort deutsch kann, weil ich  wegen meiner Grammatikallergie  die greaulichsten Klassenarbeiten schrieb, konnte er  es  gar  nicht fassen, dass  ich Aufsätze in einer besonderen  wir würden heute sagen postmodernen Stilmischung  zwischen Kästner, Eichendorff und Kasperlebüchern schrieb. Mein sanfter Widerstand hatte zur Folge, dass ich bei einem Psychologen landete,  der  mir mit Tintenflecken  produzierte Symmetriebilder vor die Nase hielt. Da ich  aber darin mit bestem Willen  keine Gespenster oder Katzen, auch keine Lehrer in Teufelgestalt sah, sondern nur symmetrische Flecke, war die  Diagnose, dass ich  überfordert war. So wurde ich zu meinem Staunen und Freude eine Zeitlang von der Schule genommen. Auch liessen mich die Erwachsenen in Ruhe, ich durfte machen, was mir Spass machte.

Was bei den Deutschen “anders” ist

Das war gerade 1960, zu der Zeit des ersten Militärputsches als mein Vater mit 147 Professoren aus der Universität flog.  Da hatten die  Erwachsenen auch andere Sorgen als ich. Einige Monate nach dem Putsch bekam mein Vater  Gastprofessur in Tübingen. So kam ich mit zwölf Jahren  zum ersten Mal nach Deutschland. Tübingen war  damals eine idyllische Stadt, die Menschen, die wir kennenlernten waren   meistens Kollegen meines Vaters, die  gleichaltrige Kinder hatten wie ich.  Ich wunderte  mich über die Arbeitsfreudigkeit der Deutschen, wenn ich meine Freundin Susanne übers Wochenende besuchte, kamen wir Kinder kaum zum Spielen, immer gab es etwas zu tun wie aufraeumen, sauber machen, Müll wegbringen dass  die Kinder freudig erledigten. Auch Erwachsene waren echte Arbeitstiere,   zwanglos spontanes fröhliches  Treffen zum Essen, Trinken und Unterhaltung wie bei uns zu Hause  gab es hier kaum. Meine Mutter erklaerte das abwertend damit, dass die  Deutschen  eben keine Ess- und Unterhaltungskultur haben, obwohl sie bestimmt gerne gesehen haette, wenn die Türken auch keine Esskultur haetten, denn die meiste Arbeit musste sie ja tun. Mein Vater jedoch, der  gar nichts gegen unsere Ess- und Unterhaltungskultur hatte,  sprach  fast ehrfürchtig  von einer höheren geistigen Kultur der Deutschen. Womit meine Eltern aber  nicht viel anfangen konnten, war der schwaebische “spare, spare, Haeusle baue Mentalitaet”, auch  die Zukunftsplanung bis in die kleinsten Einzelheiten.   Mein Vater  war  wie vom Kopf gestossen,  als  unsere Hausvermieterin als er  wegen einer harmlosen Krankheit im Bett lag,  besorgt  meine Mutter fragte, ob  Herr Professor schon sein Testament wohl  gemacht haette,  und    ihren Mann den Seligen lobte, der für alles so gut vorgesorgt haette.  Ich wunderte mich über die Professoren Ehefrauen, die von ihren Ehemaennern so sprachen als waeren sie höhere Wesen, manche hörten sich sogar voller Begeisterung  die Vorlesungen ihrer Maenner an,  über meine Klassenkameradin Tante Irmi mit ihren pechschwarzen Kleidern,  die sie über ein Jahr trug,  weil ihr Vater, ebenfalls bedeutender Professor gestorben war, über die sonntaeglichen Kirchenrituale der meisten Familien.   Öfters gefragt welcher Religion ich angehöre sagte ich Islam, auf die neugierigen  Fragen, ob wir auch öfters zur Moschee gingen, ob  die Frauen bei uns Kopftuch trugen,  ob es bei uns Alkohol und Schweinefleischverbot gibt wurde ich etwas verlegen, denn alle erwarteten, dass ich ihnen exotische Geschichten erzaehlte. Kopftuchfrauen kannte ich keine, weil es damals in Istanbul, kaum welche gab. Wein tranken meine Eltern fast jeden Tag und luden dazu auch noch Gaeste ein  und auf Würstchen, vor allem auf die  leckeren Nürnberger Bratwürstchen war ich so süchtig, dass ich einmal krank davon wurde, doch Moscheen, aber auch  alle möglichen Kirchen und Kathedrale, genauso Museen hasste ich; denn kaum in Tübingen angekommen machten wir staendig  Besichtigungsreisen, so wurde ich von meiner Kunsthistorikerfamilie  unfreiwillig von einer  Kirche zur anderen geschleppt. Waehrend ich gelangweilt  hinter meinen Eltern trottelte, faltete mein mein vierjaehriger  Bruder seine Haendchen zusammen und betete still für sich  wie er es brav  im Kindergarten  gelernt hatte. Auch wenn mir Kirchen genauso wie Moscheen zuwider waren, eines Tages fand ich mich im Kirchenchor als Sopransaengerin, berauschte mich an der wunderschönen Musik, hatte ich  mir doch  in den Kopf gesetzt eine Sopransängerin zu werden. Ausserdem verliebte  ich mich in den Priester, einen  engelhaft schönen  blondlockigen jungen Mann  mit himmelblauen Augen und  sanfter Baritonstimme. Sobald er  zu predigen anfing, verwandelte sich die Kirche in einen  pompösen Opernsaal und ich fand mich als eine von Allen bewurndernde  Diva  mit ihm  auf der Bühne.  So sangen er und ich einander tief in die Augen schauend die schönsten Duetts. Sobald Predigt zu Ende war und die Musik wieder  ansetzte kehrte ich jedoch  wieder in meine bescheidene Rolle als Choristin zurück.

Zum ersten Mal in meinem Leben ging ich richtig freudig in die Schule. In Uhland Gymnasium gab es keine kasernenartig militärischen Atmosphaere, keine kommandierenden und brüllenden Lehrer, kein Auswendiglernen, keine Angst, kein Stress wie in der deutschen  Schule in Istanbul. Zu  meinen Klassenkameraden  hatte ich viel mehr Zugang als in Istanbul , weil Alle aus aehnlichem  Familienmilieu kamen und  in meinem Alter waren.  Auch war es etwas Besonderes, dass eine Türkin in die Klasse kam, alle umringten und bewunderten mich einige  hätten am liebsten türkisch gelernt, so schön fanden sie diese Sprache. Plötzlich gehörte ich richtig dazu und war kein outsider mehr wie in Istanbul. Ich freundete mich mit der Tochter vom Altphilologen  Kroyman, Maren Kroymann, die spaeter  Schauspielerin, Kabarattistin und Saengerin werden sollte  und blieb als meine  Familie nach Istanbul zurückkehrte eine Zeitlang bei  ihnen, hatte grosse Achtung von Mama Kroymann, die wie eine Schwerstarbeiterin für die ganze fünfköpfige Familie und noch dazu für mich sorgte, wunderte mich über den Papa, den niemand ernst nahm, und ekelte mich von dem grobschlaechtigen Bruder, der mit ungehobelten sexuellen Witzen sich austobte. Er war genau das Gegenteil von  Fürst Myschkin  (aus Dostoyevskis Idiot), in den ich mich damals verliebt hatte.

 Von Nonnen bewacht: Die Österreichische Klosterschule in Istanbul

Mit siebzehn landete ich in Istanbul diesmal in der österreichischen Klosterschule in der Hoffnung, dass sie eine Spur menschlicher war als die deutsche Militärschule.  Das stimmte nur zum Teil,  wenigstens gefiel mir die österreichische Gemütlichkeit und Freundlichkeit , weniger aber die strengen Nonnen, die uns auf Schritt und Tritt  bewachten. Die Schule mit  dem fest verschlossenem Schultor glich mehr oder  weniger einem Gefaengnis.  Ausserdem gab es   faschitoizes Gehabe  auch hier,  Lehrer, die sich wie wild austobten, unter ihnen auch der Schuldirektor mit dem Spitznamen Köfte, (Bulette),  der wie ein Diktator in einer Schmierenkomödie herumkugelte auf der Lauer nach irgendwelchen Missetätern, denen er die Hölle heiss machen wollte. Mich erwischte er zweimal, einmal  als ich ihm meinen schwarzen flotten Regenmantel als meine Schuluniform  weismachen wollte, das Ergebnis war ein Disziplinarverfahren  mit drei Tagen Schulentfernung. Drei volle Urlaubstage kamen mir recht gelegen, nicht meiner Mutter, die  ja mittlerweile  eine Schuluniform nähen musste. Das  zweite Mal  erwischt  köfte mich aber  ziemlich hart . Denn  bei der Matura hatte ich den Prüfungstermin von dem  Militärunterricht  versäumt,  aber den türkischen Militärlehrer, der nichts gegen hübsche  junge Mädchen hatte und den Schulunterricht als einen schönen Zeitvertreib genoss doch herumgekriegt,  die Prüfung nachzuholen, aber davon wollte köfte überhaupt nichts wissen. So fiel ich als Einzige in Militärkunde durch. Nicht genug davon machte  er mich  am Maturafeier  wegen meiner Nachlässigkeit vor  der ganzen Schule lächerlich, aber mittlerweile  war ich  längst immun gegen faschitoize Verhaltensweisen. Nicht nur der Militärunterricht an sich, sondern köfte persönlich war für mich vollkommen überflüssig.

In Berlin muss man sich vervielfachen

In Istanbul, Freiburg und Berlin studierte ich  Germanistik und Theaterwissenschaft.  Es war eine aufregende Zeit. In Freiburg boykottierten die Studenten  die Vorlesungen mit herumfligenden Papierflugzeugen und Bonbons, waehrend  in Istanbul  wild geschossen wurde. Die Studentenunruhen in Freiburg kamen mir in Vergleich zu İstanbul wie ein Kinderspiel vor. In Istanbul lernte ich den Chefdramaturgen vom Schillertheater   und Schauspieler Albert Bessler und seine Frau die Schauspielerin Else Reuss kennen, die mich in ihr  Herz  schlossen und  nach Berlin holten. In Berlin war das Leben so aufregend, dass ich mich vervielfachend mehrere Leben aufeinmal lebte. Ich  sang  bei Elisabeth Grümmer vor, die ich ja bisher nur von ihrer Stimme kannte, eine aeltere gesetzte Dame, die von meiner Stimme so angetan war und sich eine Zeitlang um mich bemühte, sang im Bachchor der Gedaechniskirche, besuchte Vorlesungen bei dem bekannten Lyriker und Germanisten Walter Höllerer, ging zu den Proben von “Warten auf Godot”, Beckett selber inszenierte das Stück im Schiller Theater,  Schaubühne, Berliner Ensemble, Philarmonie, ein Leben, in dem ich mir die Zeit nicht ausreichte, dabei musste ich auch noch jobben. Vormittags gab ich türkischen Migrantenkinder Deutschunterricht. Ungeduldig erwarteten mich die Kleinen vor der Schule umarmten mich fest  und wollten mich zu Mittag als ich endlich Feierabend hatte, gar nicht weglassen. Als ich eines Abends in der Philarmonie  einem schick gekleideten Herrn sagte, dass ich eine Türkin bin, sagte der Herr schlagfertig  “und womöglich leben Sie in Kreuzberg” und lachte selber über seinen wunderbaren Witz “Nee, in Zehlendorf” erwiderte ich wahrheitsgemaess, worauf der Herr sich  vor Lachen bog und mich zu einem Glas  Wein einlud.  Ich lachte über die Dummheit dieses Mannes und schlug höflich die Einladung ab.So erlebte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Türkendiskriminierung, was dazu führte, dass ich bei jeder Gelegenheit mich für die türkischen Arbeiter einsetzen musste. Als ich einmal  eine Verkaueferin im Kaufhaus   empört anfuhr, weil sie   einen türkischen Gastarbeiter so behandelte als waere er ein Dieb, nur weil er  ein paar Klamotten   angefasst hatte, blieb  der Mann aus Dankbarkeit  für meinen Einsatz für ihn  wie  eine Klette an mir haengen, verfolgte und bedraengte  mich und  jagte mir schliesslich so eine Angst ein,  dass ich ihn mit der Polizei  bedrohte.  So lernte ich, dass  meine Solidaritaet für die Arbeiter doch seine Grenzen haben musste. Nicht aber für ihre Kinder und Frauen, die mich dann mein ganzes Leben nicht losliessen.

Dramaturgie, Theaterkritik und Brecht

Meine Berliner Jahre eröffneten mir in Istanbul  verschiedene Wege. Erstens den Weg zum Schreiben, zweitens zum Theater.  Meine   erste schriftstellerische Arbeit war die Filmgeschichte “Murat”, die damals in der Türkei  sehr viel  Aufsehen erregte und einen bedeutenden  Preis bekam. Es geht es um einen aufgeweckten türkischen  Jungen, der durch  die  Bedingungen und  Umständen  der Migration so traumatisiert und zerbrochen wird, dass er zum Schluss in einer Förderschule landet , eine spätere Version der Geschichte veröffentlichte ich  dann  vor ein paar Jahren  zweisprachig  als ein Theaterstück.  In Istanbul schrieb ich Theaterkritiken und  machte Dramaturgiearbeit. Wie aufregend war es z.B. Anfang der achtziger Jahre nach dem zweiten Militaer Putsch als viele Intellektuelle ins Gefaengnis kamen,  Brechts “Gelilei” neu zu lesen, ging es doch darum die Stellung des Intellektuellen in einem faschistischem Regime zu hinterfragen.  Oder zwei Jahrzehnte dannach  Max Frischs “Biedermann und Brandstifter” neu zu interpretieren, in dem die  Brandstifter als die islamischen Fundamentalisten auftraten.   In den neunziger Jahren  gründete ich  an der  Istanbuler Universitaet ein Fach für “Dramaturgie und Theaterkritik” und  arbeitete mehrere Jahrzehnte in einer Bürgerintitative um das Bildungssystem in der Türkei zu reformieren,  kurz meine Deutschlanderfahrungen praegten meine  ganze Entwicklung.

Nach langen Jahren: Die Schauspielkunst meiner Arbeiterenkelkinder im Ruhrgebiet

Jahre spaeter, nachdem  ich in Istanbul meine akademische  Karriere gemacht und dort  auch meinen Mann  Norbert Mecklenburg kennengelernt hatte, der Literaturwissenschaftler ist,  begegnete ich den Kindern meiner damaligen Berliner Arbeiter  Kinder  an der Universitaet Essen an der ich zum Schluss gelandet war. Als eine Theaterfrau war ich fasziniert von der   raffinierten  Schauspielkunst meiner  Enkeln, die  wie ausgebeutete und diskriminierte Arbeitsnehmer auftraten und mit den Arbeitsgebern (den Professoren) um höhere Löhne (Noten) feilschten. Etliche deutsche Kollegen, die   nicht besonders theaterkundig waren, dafür aber auf political correctness wert legten (denn wer will schon Türkenfeindlich  gelten)  verhaetschelten die  armen benachteiligten Migrantenkinderchen  gaben und  ihnen für ihr  Nichtstun  Belohnungen.  Da sie die wunderbaren  Inszenierungsstrategien meiner Enkeln, die Alle um ihre  Finger wickelten nicht durchschauen konnten, sprachen sie von der  Andersartigkeit der türkischen Studenten, die sie auf die islamische Kultur zurückführten.

Fast gefaehrlich wurde es aber als die Verhaltensweise eines an Schizophrenie erkrankten  türkischen Studenten von etlichen Kollegen eine lange Zeit “als die andere Kultur” gedeutet wurde.

Ich erzaehle keine Buckelgeschichten

Nicht nur meine Migrantenenkelkinder, sondern viele aufgeweckten  Türken in Deutschland  lehrten mich, dass es  in unserer heutigen  “Kultur der Inszenierung” letzlich darauf ankommt, die richtige Rolle zu spielen, bzw. sich durch Selbstinszenierung wirkungsvoll in Szene zu setzen.  Die Frage bleibt, wer die Rollen verteilt,  bzw. nach welchen Regeln die Selbstinzenierung erfolgt. Heutzutage  in  Deutschland ein Türke zu sein bedeute mit einem Buckel zu leben hatte mal ein  Bekannter gesagt.  Nur wenn man sich als Behinderter  inszeniert bekommt man Sanktionen. Das gefiel mir überhaupt nicht. In meinen Büchern erzaehle ich keine Buckelgeschichten, keine Ehrenmorde, kein Zwangsheirat, auch nichts Exotisches,was Sensationswert hat. So konnte mein Kinderbuch “Nashornspiel”, ein satirisches Buch über Kindheit in Istanbul,  das in Deutschland als  “literaturaesthetisch anspruchsvolles Buch” sehr gute Rezensionen Kritiken bekam und auch in beiden Laendern auch mit Preise bekam, nicht mal eine zweite Auflage machen, der Grund dafür aber war, wie  ich öfters  nur zu hören bekam,  mein Buch sei  zu “eurozentristisch”.  Auch mein letztes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde, “Wege ins Freie, Junge Migrationgeschichten” konnte nur in einem Kleinverlag unterbracht werden, weil ich keine Jammer und Elend-, sondern  Befreiungsgeschichten erzaehlte, von jungen Menschen denen es trotz grossen Schwierigkeiten   gelingt ihren eigenen Weg zu finden. Das passte nicht zum heutigen Trend, in dem  alles was mit Türken zusammenhaengt, in die Buckelschublade geschoben werden sollte.  So verlagerte ich meine schriftstellerische  Arbeit immer mehr  zur Türkei und freue mich aber,  dass ich von meinem deutsch-türkischen Leben in den langen Jahren so viele reichhaltige  Erfahrungen gesammelt habe, die für mein Autorenleben  sehr anregend und bereichernd waren und immer noch sind.

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