Was bedeutet Identität?

Jahrbuch Turkisch-Deutsche Studien 1/2010: Turkisch-Deutscher Kulturkontakt Und Kulturtransfer: Kontroversen Und Lernprozesse, Hrsg. Von Şeyda Ozil und Y.Dayıoplu

Ein türkisch-deutsches Theaterprojekt

Mein heutiger Vortrag hat einen hochschuldidaktischen Aspekt.  An hand einem neuen Buch, das von mir erschienen ist “Wege ins Freie, Junge Migrationsgeschichten” und einem damit verbundenem Theaterprojekt an der Universitaet Duisburg-Essen, versuche ich der Frage nachzugehen, was Identitaet in einer multikultuellen Gesellschaft überhaupt bedeutet.

Wir  Sind Viele

In der  biblischen Geschichte “Der Herr über die Daemonen” (indem Evangelium des Markus,s.119)fragte Jesus  einen Verrückten, den niemand baendigen  konnte “Wie heissest du?” Der Befragte antwortete “Legion heisse ich;  wir sind Viele” Mit der Bezeichnung “Viele” sind die “unsauberen Geister in ihm gemeint ,  die ihn plagen.  Daraufhin rettet Jesus  ihn von diesen Daemonen, die dann in Gestalt einer Sauherde den Meeresabhang hinunter stürzen und ersaufen.

In unserer heutigen Zeit, in der man weniger von  einer in sich geschlossenen Persönlichkeit von Individuum, Identitaet und Authentizitaet spricht, als von  zusammenkonstruierten Identitaeten und von Dividiuum, scheint mir  diese Geschichte  besonders nachdenkenswert. Denn der heute postmoderne Diskurs über Dividuum,verharmlost  oder verdraengt die Tatsache, dass verschiedenartige  einander entgegengesetzte Impulse haeufig auch zu  Konflikten, sogar zu schwerwiegenden Neurosen führen können. Je mehr der Einzelne in einer modernen urbanen Kultur lebt, in der moderne und traditionelle  Wertsysteme  gleichzeitig gegen-mit oder ineinander existieren, um so mehr entstehen soziale und psychologische Rollenkonflikte.

Die kleinen Frauchen in uns

Die moderne türkische Autorin Elif Şafak, beschreibt in ihrem autobiografischen Roman “Schwarze Milch” (Siyah Süt) diese Situation aus Genderperspektive. In diesem Buch erzaehlt sie nicht nur aus einer bestimmten Phase ihres Lebens, in der  ihre künstlerischen Impulse in starke Konflikte geraten zu ihrem herkömmlichen Rollenverhalten als  Frau, als Ehefrau,  als Mutter, sondern sie  führt auch aus der Lebenschichte von künstlerisch herausragenden Autorinnen Krisensituationen mit vielfach tragischem Ende, wie  Familienzusammenbruch, Ehebruch, sogar Selbstmord vor. Z.B. die schweren Depressionen der Autorin Silvia Path, die zum Selbstmord führte,  George Elliott  Kampf um Gleichberechtigung usw.  In dem autobiografischen Teil ihres Buches werden ihre verschiedenen Impulse und Neigungen, die miteinander in Konflikt geraten personifiziert. Da sind die kleinen Fingerfrauchen, die der Autorin  so sehr an der Nase herum tanzen, dass sie in eine schwere Krise geraet. Das ist  die praktisch schnelle Vernunft Frau, die immer in der Oberflaeche schwimmt, die Ehrgeiz Frau, die eiskalt nur an Karriere denkt, die frustrierte intellektuelle Frau, die  mit ihren staendigen Nörgeleien an nichts mehr Freude hat, die weise Derwisch Frau, die sich von all dem Lebenstreiben fern haelt und die  mütterliche Pudding Frau, die  gegen ihre Rivalinnen kaempft. So werden die Geschlechterbeziehungen in unserer heutigen Zeit auf witzige Art  verfremdet.

Auch in Maennern sind natürlich verschiedenartigen Impulse, die mit einander in Konflikt geraten vorhanden(auch wenn es in diesem Buch nicht vorkommt). Wie z.B. das Macho Maennchen, das sich staendig aufblaest, das alternatife feministische Mannchen, das Machtmaennchen, das verbissen kaempft,  das weinerlich sensible Maennchen oder das kritische Nörgelmaennchen usw.

Aber  im Leben sind die Konflikte, die die Maenner zu tragen haben bestimmt nicht so stark und auspraegend wie die Konflikte der Frauen. In den traditionell patriarchalischen Gesellschaften, in denen die  Geschlechterrollen klar getrennt sind, gibt es für sie sowieso keine Probleme, aber auch in modernen Gesellschaften, in denen Gleichberechtigung anerkannt wird,  sind ihre Rollen , zumindest was Karriere und Beruf betrifft, zum grössten Teil gesichert.

Ich und Ich Selbst

Anders ist es bei  der Frau, die  in ihrer traditionellen sowie modernen Rollenmuster tatsaechlich “Viele”ist., d.h. viele Rollen übernehmen müssen um sich in einer Maenner dominanten Welt durchzusetzen. Besonders ausgepraegt sind die Probleme bei Frauen mit Migrationshintergrund. Weil gerade Frauen, die  zumeist aus traditionellen Gesellschaften kommen mit den Werten der modernen Gesellschaften oder aber mit den Werten ihrer Herkunftskultur  in Konflikt geraten. Dazu ein  Beispiel, aus meinem Schreibwerkstatt zum kreativen Schreiben mit

Jungen Menschen mit Migrationshintergrund. In der Geschichte “Der Rosa Montag” beschreibt die junge Autorin eine ungewöhnliche Persönlichkeitsspaltung zwischen dem dem Ich und dem Selbst. Ihr Ich ist fest umzingelt von den Traditionen, aber ihr Selbst ist frei, geht seinen eigenen Weg, und macht was sie will.Waehrend sich ihr Ich traurig zu Hause einschliesst, ist ihr Selbst so verrückt, dass sie auf niemanden hört und so lebt wie sie will.Ihr selbst hat einen italienischen Freund, geht mit ihm aus und heiratet mit ihm heimlich, ohne darauf zu achten, was andere wohl sagen werden. Ihr Selbst ist glücklich. Ihr Ich nimmt das ihrem Selbst sehr übel und ist wütend, aber bewundert ihr Selbst auch, und ist neidisch auf die Gleichgültügkeit und Mut von dem Selbst.

Ich denke, dass diese Geschichte die inneren Konflikte der jungen Migrantinnen aus der dritten Generation sehr treffend darstellt. In der Öffentlichkeit werden aber diese Probleme entweder einseitig debattiert oder  aber verdraengt und missachtet.  Waehrend z.B. die Soziologin Necla Kelek, die Probleme nur auf Islam als eine  frauenfeindliche und rückstandige Religion zurückführt, den sozialen Kontext aber dabei zum grössten Teil ausklammert, nehmen die  Multikulti Gutmenschen  genau die Gegenposition ein, nach dem Motto jeder soll auf seine Art glücklich werden oder aber unglücklich bleiben.

Wege ins Freie, Junge Migrationsgeschichten

In meinem kürzlich auch in deutscher Sprache erschienenem Buch “Wege ins Freie, junge Migrationsgeschichten”  habe ich versucht   Lebensgeschichten von jungen Migrantinnen  zu praesentieren,  die sich bemühen, ihren eigenen Lebensraum selbst zu schaffen, sich selbst zu finden. Daraus entstanden Portraits  von  Selbstfindungsprozessen gemacht, von  jungen Menschen, die ihren  eigenen Weg gehen, dabei sich frei in verschiedenen Gruppen bewegen, verschiedene Rollen spielen wollen, ohne sich einzuengen. Selbstbestimmung bleibt ihr Motto. So bietet dieses Buch anschauliches Material zum Nachdenken, Material über individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen von Emanzipationsversuchen. Dabei  werden herkömmliche Klischees, Vorurteile und Verallgemeinerungen problematisiert. Sechs Frauen und zwei Männer erzählen. Keine Stimme ist typisch, doch ist jede auf ihre Weise repräsentativ. Ihre Erzählungen waren mitbestimmt durch das Milieu, aus dem sie stammen, und  durch das in dem sie jetzt lebten, durch ihre Sozialisation, ihre Ausbildung, durch ihre Begegnung mit anderen Menschen, durch ihre  Beruf- und Zukunftsaussichten, durch die Bedingungen, die ihnen von der Gesellschaft gesetzt wurden.

So werden in diesem Buch Themen  und  Probleme dargestellt, die durch die Migration entstehen  wie z.B. Auseinandersetzung mit den Traditionen, Generationskonflikt, Geschlechterbeziehungen, Diskriminierungserfahrungen, Zerrissenheit und Unstabilität, Heimatlosigkeit, Suche nach einem Lebensraum, Suche nach sich selbst.   Dabei ging es uns um folgende Fragen:  Was waren dabei die Haupthindernisse, wie konnten die jungen Leute diese überwinden, mit welchen Konflikten mussten sie sich auseinandersetzen, welche Dramen spielten sich in ihrem Leben ab, wie weit ist das ihnen gelungen, welche persönlichen Begegnungen haben ihnen dabei geholfen, wie stellen sie sich ihre Zukunft vor usw.

Entgegen der herkömmlichen Tendenz  diese Menschen als Opfer dazustellen und das dabei schnell und verallgemeinernd auf die rückschrittliche islamisch türkische Kultur zurückzuführen, ging  es also hier darum Versuche oder Wege einer Selbstfindung zu zeigen.

So individuell und einzigartig die einzelnen  Lebens- und Entwicklungsgeschichten auch angelegt sind, deutlich erkennbar sind hier die Grundmuster der  Integrationshemmschwellen, patriarchalische Grundstrukturen bei  Migrantenfamilien, die aus dörflichen Gegenden der Türkei kommen  und  Schwierigkeiten und Probleme der Aufnahmegesellschaft  mit dem Andersartigem und  Fremden umzugehen. Der Prozess der Selbstfindung läuft sehr langsam und mühselig, da die Bindung an die Familie und  die Angst vor der kalten Atmosphäre in Deutschland, die Angst alleine zu bleiben und keinen Rückgrat mehr zu haben sehr stark ausgeprägt ist.

Dazu möchte ich jetzt ein paar Beispiele aus dem Buch einführen, um die Konfliktsituation, in denen sich diese jungen Menschen  befinden zu veranschaulichen. (Bp. Gülpembe)

Ein Theaterprojekt

Das  Theater Projekt „Wege ins Freie“ , das ursprünglich   bei meinem Seminar zu Kulturellen Differenzen entstanden und entwickelt worden war, wurde durch  Theaterworkshops unter der Leitung von  Bernhard Deutsch, dem Theaterpeadagogen von Theater an der Ruhr  weitergeführt und nach einer langen Arbeitszeit von drei Semestern  in Theater an der Ruhr und in Essen, Oberhausen, Paderborn  aufgeführt . So  entstand  ein dokumentarisches Theaterstück, das die Probleme der dritten Generation mit Migrantenherkunft  zum ersten Mal aus ihrer eigenen  Perspektive  zur Sprache brachte.

Die erste Phase dieses Projektes war die Rezeption und Analyse der ausgewählten Lebensgeschichten aus dem Buch . Dabei  entwickelten sich  drei Richtungen: Die Geschichten von Deutschländer, die hier geboren und aufgewachsen sind und  trotzdem das schwere Gepäck der Eltern vollgestopft mit dörflichen  Gewohnheiten und Traditionen  mitschleppen müssen; Die Geschichten von  Hin und Hergeschobenen, die  das ständige Nomadenleben satt haben und endlich irgendwo Wurzel schlagen wollen

Die Geschichten von denen die ihre frühe Kindheit mit unterschiedlicher Erfahrung  z.B. Großstadtleben, das dem Einzelnen sehr viel Freiraum zulässt  oder Slumleben unter den denkbar ärmsten Verhältnissen  in der Türkei verbracht haben und sich  je nach ihren Erfahrungen heute  hier oder dort mehr zugehörig fühlen oder  den Mut haben irgendwo  anders in der Welt neu zu beginnen.

Aus jeder Lebensgeschichte wurden dann charakteristische Merkmale oder Schnittpunkte herausgearbeitet, die dann die Vorgabe für die Improvisationsarbeit gaben. Diese Schnittpunkte ergaben noch keine Szenen sondern Denkanregungen oder Bilder,  die dann bei der Improvisationsarbeit  weiter ausgebaut wurden. Nachdem die Rollen verteilt worden waren, jeder Teilnehmer/in hatte (eine vielleicht ihrer eigenen Lebensgeschichte ähnelnde) Rolle ausgewählt,  konnte sie die Rolle mit Bildern aus der eigenen Lebensgeschichte, Erfahrungen, Erlebnissen und Beobachtungen veranschaulichen. Dabei wurde ständig vor Augen gehalten, dass es hier um ein dramaturgisches Modell geht, in dem ein Wechselspiel zwischen Individuell Besonderem und Modellhaft Verallgemeinerndem entsteht.

Dramaturgisch entstand dann  entstand  zunächst ein Spielgerüst aus zwei Teilen. Die Phasen der Kindheit, der Entwicklung und der Selbstsuche, die Reibungspunkte und Widerstände  werden dann rückblickend   auf zwei Ebenen auf Spiel  und Erzählebene in locker aneinander verbundenen Szenen dargestellt.

Im ersten Teil geht es um die Reise in die Vergangenheit,  um  frühe Kindheitserfahrungen, um Stimmen, Bilder und Erinnerungen aus beiden Ländern, die die späteren Jahre prägen.   Im zweiten Teil um die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten und Problemen der Migration, sowie um den langen mühseligen Weg der Selbstsuche.  So unterschiedlich der Weg auch ist, den Einzelne gehen müssen, das Gemeinsame bleibt die Befreiung von allen Hindernissen und  Zwängen. Das Stück endet mit der  offenen Frage  bleiben oder gehen. Einige haben   das ewige  Hin und Hergeschobenwerden wie ein  Gepäckstück  satt, und wollen endlich hier  Fuß fassen. Eine  Andere hat  ein Stück Türkei  ausserhalb der Migrantenmilieu kennengelernt,  das ihr einen neuen Weg eröffnet. Eine Andere fühlt sich als Weltbürgerin  nirgendwo oder überall zu Hause.

„Wege ins Freie“ hatte  einerseits das Ziel die Klischees und Vorurteile  über die Migranten zu problematisieren, d.h. sie in ihrem sozialen Umfeld zu zeigen, andererseits  den  mühseligen Prozess  der Selbstfindung mit den dazugehörigen Hindernissen und Barrieren zu veranschaulichen. Es war ein Stück, das Mut machen sollte und zwar nicht nur den Migranten aus der dritten Generation, sondern Allen  die mit diesem Problem zu tun haben. Denn letztendlich ging  es  hier auch um Erfolgsgeschichten. Und  wir sehen, wie  bei diesem  langenWeg jedes negative Erlebnis, jede Irritation, jede Verletzung  große Blockaden schafft, umgekehrt  jedes positive Erlebnis, jede menschliche Begegnung sei es von einem Lehrer, der sich solidarisiert, oder einer Nachbarin, die sich diesen Menschen öffnet, Wunder wirken. Es ging hier also weniger um grundlegende politische Änderungen, als um kleine  konkrete Schritte in den Grenzen des Machbaren.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung :

Kofferszene:

Schon zu Beginn kommen Alle  mit kleinen und großen Koffern und Taschen auf die Bühne. Die Hin und Hergeschobenen werfen die Koffer weg, sie wollen endlich ein Leben ohne Koffer führen  und träumen davon ein eigenes Haus zu bauen. Die hier Geborenen, die so  mühselig die uralten Koffer ihrer Eltern schleppen, dass sie fast krumm gehen, schmeißen  nach und nach  daraus Alles was ihnen nicht passt weg. Ein tiefes Aufatmen, Erleichterung. Was jetzt zählt ist die Freiheit. Es gibt auch Eine Abenteuerlustige, die in ihren  Rucksack  das Allernotwendigste einpackt,  bevor sie in die weite Welt zieht.

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