Ein türkisch-deutsches Theaterprojekt
Mein heutiger Vortrag hat einen hochschuldidaktischen Aspekt. An hand einem neuen Buch, das von mir erschienen ist “Wege ins Freie, Junge Migrationsgeschichten” und einem damit verbundenem Theaterprojekt an der Universitaet Duisburg-Essen, versuche ich der Frage nachzugehen, was Identitaet in einer multikultuellen Gesellschaft überhaupt bedeutet.
Wir Sind Viele
In der biblischen Geschichte “Der Herr über die Daemonen” (indem Evangelium des Markus,s.119)fragte Jesus einen Verrückten, den niemand baendigen konnte “Wie heissest du?” Der Befragte antwortete “Legion heisse ich; wir sind Viele” Mit der Bezeichnung “Viele” sind die “unsauberen Geister in ihm gemeint , die ihn plagen. Daraufhin rettet Jesus ihn von diesen Daemonen, die dann in Gestalt einer Sauherde den Meeresabhang hinunter stürzen und ersaufen.
In unserer heutigen Zeit, in der man weniger von einer in sich geschlossenen Persönlichkeit von Individuum, Identitaet und Authentizitaet spricht, als von zusammenkonstruierten Identitaeten und von Dividiuum, scheint mir diese Geschichte besonders nachdenkenswert. Denn der heute postmoderne Diskurs über Dividuum,verharmlost oder verdraengt die Tatsache, dass verschiedenartige einander entgegengesetzte Impulse haeufig auch zu Konflikten, sogar zu schwerwiegenden Neurosen führen können. Je mehr der Einzelne in einer modernen urbanen Kultur lebt, in der moderne und traditionelle Wertsysteme gleichzeitig gegen-mit oder ineinander existieren, um so mehr entstehen soziale und psychologische Rollenkonflikte.
Die kleinen Frauchen in uns
Die moderne türkische Autorin Elif Şafak, beschreibt in ihrem autobiografischen Roman “Schwarze Milch” (Siyah Süt) diese Situation aus Genderperspektive. In diesem Buch erzaehlt sie nicht nur aus einer bestimmten Phase ihres Lebens, in der ihre künstlerischen Impulse in starke Konflikte geraten zu ihrem herkömmlichen Rollenverhalten als Frau, als Ehefrau, als Mutter, sondern sie führt auch aus der Lebenschichte von künstlerisch herausragenden Autorinnen Krisensituationen mit vielfach tragischem Ende, wie Familienzusammenbruch, Ehebruch, sogar Selbstmord vor. Z.B. die schweren Depressionen der Autorin Silvia Path, die zum Selbstmord führte, George Elliott Kampf um Gleichberechtigung usw. In dem autobiografischen Teil ihres Buches werden ihre verschiedenen Impulse und Neigungen, die miteinander in Konflikt geraten personifiziert. Da sind die kleinen Fingerfrauchen, die der Autorin so sehr an der Nase herum tanzen, dass sie in eine schwere Krise geraet. Das ist die praktisch schnelle Vernunft Frau, die immer in der Oberflaeche schwimmt, die Ehrgeiz Frau, die eiskalt nur an Karriere denkt, die frustrierte intellektuelle Frau, die mit ihren staendigen Nörgeleien an nichts mehr Freude hat, die weise Derwisch Frau, die sich von all dem Lebenstreiben fern haelt und die mütterliche Pudding Frau, die gegen ihre Rivalinnen kaempft. So werden die Geschlechterbeziehungen in unserer heutigen Zeit auf witzige Art verfremdet.
Auch in Maennern sind natürlich verschiedenartigen Impulse, die mit einander in Konflikt geraten vorhanden(auch wenn es in diesem Buch nicht vorkommt). Wie z.B. das Macho Maennchen, das sich staendig aufblaest, das alternatife feministische Mannchen, das Machtmaennchen, das verbissen kaempft, das weinerlich sensible Maennchen oder das kritische Nörgelmaennchen usw.
Aber im Leben sind die Konflikte, die die Maenner zu tragen haben bestimmt nicht so stark und auspraegend wie die Konflikte der Frauen. In den traditionell patriarchalischen Gesellschaften, in denen die Geschlechterrollen klar getrennt sind, gibt es für sie sowieso keine Probleme, aber auch in modernen Gesellschaften, in denen Gleichberechtigung anerkannt wird, sind ihre Rollen , zumindest was Karriere und Beruf betrifft, zum grössten Teil gesichert.
Ich und Ich Selbst
Anders ist es bei der Frau, die in ihrer traditionellen sowie modernen Rollenmuster tatsaechlich “Viele”ist., d.h. viele Rollen übernehmen müssen um sich in einer Maenner dominanten Welt durchzusetzen. Besonders ausgepraegt sind die Probleme bei Frauen mit Migrationshintergrund. Weil gerade Frauen, die zumeist aus traditionellen Gesellschaften kommen mit den Werten der modernen Gesellschaften oder aber mit den Werten ihrer Herkunftskultur in Konflikt geraten. Dazu ein Beispiel, aus meinem Schreibwerkstatt zum kreativen Schreiben mit
Jungen Menschen mit Migrationshintergrund. In der Geschichte “Der Rosa Montag” beschreibt die junge Autorin eine ungewöhnliche Persönlichkeitsspaltung zwischen dem dem Ich und dem Selbst. Ihr Ich ist fest umzingelt von den Traditionen, aber ihr Selbst ist frei, geht seinen eigenen Weg, und macht was sie will.Waehrend sich ihr Ich traurig zu Hause einschliesst, ist ihr Selbst so verrückt, dass sie auf niemanden hört und so lebt wie sie will.Ihr selbst hat einen italienischen Freund, geht mit ihm aus und heiratet mit ihm heimlich, ohne darauf zu achten, was andere wohl sagen werden. Ihr Selbst ist glücklich. Ihr Ich nimmt das ihrem Selbst sehr übel und ist wütend, aber bewundert ihr Selbst auch, und ist neidisch auf die Gleichgültügkeit und Mut von dem Selbst.
Ich denke, dass diese Geschichte die inneren Konflikte der jungen Migrantinnen aus der dritten Generation sehr treffend darstellt. In der Öffentlichkeit werden aber diese Probleme entweder einseitig debattiert oder aber verdraengt und missachtet. Waehrend z.B. die Soziologin Necla Kelek, die Probleme nur auf Islam als eine frauenfeindliche und rückstandige Religion zurückführt, den sozialen Kontext aber dabei zum grössten Teil ausklammert, nehmen die Multikulti Gutmenschen genau die Gegenposition ein, nach dem Motto jeder soll auf seine Art glücklich werden oder aber unglücklich bleiben.
Wege ins Freie, Junge Migrationsgeschichten
In meinem kürzlich auch in deutscher Sprache erschienenem Buch “Wege ins Freie, junge Migrationsgeschichten” habe ich versucht Lebensgeschichten von jungen Migrantinnen zu praesentieren, die sich bemühen, ihren eigenen Lebensraum selbst zu schaffen, sich selbst zu finden. Daraus entstanden Portraits von Selbstfindungsprozessen gemacht, von jungen Menschen, die ihren eigenen Weg gehen, dabei sich frei in verschiedenen Gruppen bewegen, verschiedene Rollen spielen wollen, ohne sich einzuengen. Selbstbestimmung bleibt ihr Motto. So bietet dieses Buch anschauliches Material zum Nachdenken, Material über individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen von Emanzipationsversuchen. Dabei werden herkömmliche Klischees, Vorurteile und Verallgemeinerungen problematisiert. Sechs Frauen und zwei Männer erzählen. Keine Stimme ist typisch, doch ist jede auf ihre Weise repräsentativ. Ihre Erzählungen waren mitbestimmt durch das Milieu, aus dem sie stammen, und durch das in dem sie jetzt lebten, durch ihre Sozialisation, ihre Ausbildung, durch ihre Begegnung mit anderen Menschen, durch ihre Beruf- und Zukunftsaussichten, durch die Bedingungen, die ihnen von der Gesellschaft gesetzt wurden.
So werden in diesem Buch Themen und Probleme dargestellt, die durch die Migration entstehen wie z.B. Auseinandersetzung mit den Traditionen, Generationskonflikt, Geschlechterbeziehungen, Diskriminierungserfahrungen, Zerrissenheit und Unstabilität, Heimatlosigkeit, Suche nach einem Lebensraum, Suche nach sich selbst. Dabei ging es uns um folgende Fragen: Was waren dabei die Haupthindernisse, wie konnten die jungen Leute diese überwinden, mit welchen Konflikten mussten sie sich auseinandersetzen, welche Dramen spielten sich in ihrem Leben ab, wie weit ist das ihnen gelungen, welche persönlichen Begegnungen haben ihnen dabei geholfen, wie stellen sie sich ihre Zukunft vor usw.
Entgegen der herkömmlichen Tendenz diese Menschen als Opfer dazustellen und das dabei schnell und verallgemeinernd auf die rückschrittliche islamisch türkische Kultur zurückzuführen, ging es also hier darum Versuche oder Wege einer Selbstfindung zu zeigen.
So individuell und einzigartig die einzelnen Lebens- und Entwicklungsgeschichten auch angelegt sind, deutlich erkennbar sind hier die Grundmuster der Integrationshemmschwellen, patriarchalische Grundstrukturen bei Migrantenfamilien, die aus dörflichen Gegenden der Türkei kommen und Schwierigkeiten und Probleme der Aufnahmegesellschaft mit dem Andersartigem und Fremden umzugehen. Der Prozess der Selbstfindung läuft sehr langsam und mühselig, da die Bindung an die Familie und die Angst vor der kalten Atmosphäre in Deutschland, die Angst alleine zu bleiben und keinen Rückgrat mehr zu haben sehr stark ausgeprägt ist.
Dazu möchte ich jetzt ein paar Beispiele aus dem Buch einführen, um die Konfliktsituation, in denen sich diese jungen Menschen befinden zu veranschaulichen. (Bp. Gülpembe)
Ein Theaterprojekt
Das Theater Projekt „Wege ins Freie“ , das ursprünglich bei meinem Seminar zu Kulturellen Differenzen entstanden und entwickelt worden war, wurde durch Theaterworkshops unter der Leitung von Bernhard Deutsch, dem Theaterpeadagogen von Theater an der Ruhr weitergeführt und nach einer langen Arbeitszeit von drei Semestern in Theater an der Ruhr und in Essen, Oberhausen, Paderborn aufgeführt . So entstand ein dokumentarisches Theaterstück, das die Probleme der dritten Generation mit Migrantenherkunft zum ersten Mal aus ihrer eigenen Perspektive zur Sprache brachte.
Die erste Phase dieses Projektes war die Rezeption und Analyse der ausgewählten Lebensgeschichten aus dem Buch . Dabei entwickelten sich drei Richtungen: Die Geschichten von Deutschländer, die hier geboren und aufgewachsen sind und trotzdem das schwere Gepäck der Eltern vollgestopft mit dörflichen Gewohnheiten und Traditionen mitschleppen müssen; Die Geschichten von Hin und Hergeschobenen, die das ständige Nomadenleben satt haben und endlich irgendwo Wurzel schlagen wollen
Die Geschichten von denen die ihre frühe Kindheit mit unterschiedlicher Erfahrung z.B. Großstadtleben, das dem Einzelnen sehr viel Freiraum zulässt oder Slumleben unter den denkbar ärmsten Verhältnissen in der Türkei verbracht haben und sich je nach ihren Erfahrungen heute hier oder dort mehr zugehörig fühlen oder den Mut haben irgendwo anders in der Welt neu zu beginnen.
Aus jeder Lebensgeschichte wurden dann charakteristische Merkmale oder Schnittpunkte herausgearbeitet, die dann die Vorgabe für die Improvisationsarbeit gaben. Diese Schnittpunkte ergaben noch keine Szenen sondern Denkanregungen oder Bilder, die dann bei der Improvisationsarbeit weiter ausgebaut wurden. Nachdem die Rollen verteilt worden waren, jeder Teilnehmer/in hatte (eine vielleicht ihrer eigenen Lebensgeschichte ähnelnde) Rolle ausgewählt, konnte sie die Rolle mit Bildern aus der eigenen Lebensgeschichte, Erfahrungen, Erlebnissen und Beobachtungen veranschaulichen. Dabei wurde ständig vor Augen gehalten, dass es hier um ein dramaturgisches Modell geht, in dem ein Wechselspiel zwischen Individuell Besonderem und Modellhaft Verallgemeinerndem entsteht.
Dramaturgisch entstand dann entstand zunächst ein Spielgerüst aus zwei Teilen. Die Phasen der Kindheit, der Entwicklung und der Selbstsuche, die Reibungspunkte und Widerstände werden dann rückblickend auf zwei Ebenen auf Spiel und Erzählebene in locker aneinander verbundenen Szenen dargestellt.
Im ersten Teil geht es um die Reise in die Vergangenheit, um frühe Kindheitserfahrungen, um Stimmen, Bilder und Erinnerungen aus beiden Ländern, die die späteren Jahre prägen. Im zweiten Teil um die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten und Problemen der Migration, sowie um den langen mühseligen Weg der Selbstsuche. So unterschiedlich der Weg auch ist, den Einzelne gehen müssen, das Gemeinsame bleibt die Befreiung von allen Hindernissen und Zwängen. Das Stück endet mit der offenen Frage bleiben oder gehen. Einige haben das ewige Hin und Hergeschobenwerden wie ein Gepäckstück satt, und wollen endlich hier Fuß fassen. Eine Andere hat ein Stück Türkei ausserhalb der Migrantenmilieu kennengelernt, das ihr einen neuen Weg eröffnet. Eine Andere fühlt sich als Weltbürgerin nirgendwo oder überall zu Hause.
„Wege ins Freie“ hatte einerseits das Ziel die Klischees und Vorurteile über die Migranten zu problematisieren, d.h. sie in ihrem sozialen Umfeld zu zeigen, andererseits den mühseligen Prozess der Selbstfindung mit den dazugehörigen Hindernissen und Barrieren zu veranschaulichen. Es war ein Stück, das Mut machen sollte und zwar nicht nur den Migranten aus der dritten Generation, sondern Allen die mit diesem Problem zu tun haben. Denn letztendlich ging es hier auch um Erfolgsgeschichten. Und wir sehen, wie bei diesem langenWeg jedes negative Erlebnis, jede Irritation, jede Verletzung große Blockaden schafft, umgekehrt jedes positive Erlebnis, jede menschliche Begegnung sei es von einem Lehrer, der sich solidarisiert, oder einer Nachbarin, die sich diesen Menschen öffnet, Wunder wirken. Es ging hier also weniger um grundlegende politische Änderungen, als um kleine konkrete Schritte in den Grenzen des Machbaren.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung :
Kofferszene:
Schon zu Beginn kommen Alle mit kleinen und großen Koffern und Taschen auf die Bühne. Die Hin und Hergeschobenen werfen die Koffer weg, sie wollen endlich ein Leben ohne Koffer führen und träumen davon ein eigenes Haus zu bauen. Die hier Geborenen, die so mühselig die uralten Koffer ihrer Eltern schleppen, dass sie fast krumm gehen, schmeißen nach und nach daraus Alles was ihnen nicht passt weg. Ein tiefes Aufatmen, Erleichterung. Was jetzt zählt ist die Freiheit. Es gibt auch Eine Abenteuerlustige, die in ihren Rucksack das Allernotwendigste einpackt, bevor sie in die weite Welt zieht.